Ein Ring von Tiffany - Roman
Küche, eine großzügig bemessene Badewanne und einen nicht zu verachtenden Blick auf das Empire State Building zu bieten hatte. Okay, sie war vielleicht nicht gerade die größte Wohnung im ganzen Haus - die kleinste, um genau zu sein -, aber ein Traum war sie trotzdem, ein Traum und ein Glück. Und sie gehörte ihr, obwohl sie es nie für möglich gehalten hatte, dass sie sich so etwas jemals würde leisten können. Jeden einzelnen der sündteuren paar Quadratmeter hatte sie mit ihrem eigenen - sauer verdienten - Geld bezahlt.
Wie hätte sie auch ahnen können, dass sich die scheinbar so harmlose Nachbarin von oben als leidenschaftliche Trägerin schwerer orthopädischer Schuhe entpuppen würde? Leigh hätte sich dafür in den Hintern treten können, dass sie sich eingebildet hatte, Stöckelschuhe wären das einzige potenzielle Lärmrisiko. Ein blutiger Anfängerfehler. Bevor sie ihre Nachbarin in den Klotschen des Anstoßes zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatte Leigh sich eine komplizierte Erklärung für das unentwegte Gepolter einfallen lassen. Sie stellte sich vor, dass die Frau Holländerin war und deshalb die landestypischen
Holzpantinen trug. Als Matriarchin einer weitverzweigten Holländersippe bekam sie dauernd Besuch von einem nicht abrei ßen wollenden Strom von Kindern und Enkelkindern, Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen, Geschwistern und sonstigen Anverwandten … durch die Bank holländische Holzschuhträger. Nachdem sie das klobige Schuhwerk dann mit eigenen Augen gesehen und sich mit geheucheltem Mitgefühl zu den zahlreichen, übel klingenden Fußkrankheiten ihrer Nachbarin geäußert hatte - darunter (aber beileibe nicht nur) Fersensporn, eingewachsene Zehennägel, Überbeine und entzündete Fußballen -, war Leigh schnurstracks nach oben gerannt, um einen Blick in die Hausordnung zu werfen. Und tatsächlich: Die jeweiligen Wohnungseigentümer waren verpflichtet, ihren Holzboden zu achtzig Prozent mit Teppichboden auszulegen. Leider half ihr das auch nicht viel weiter, denn schon auf der nächsten Seite musste sie lesen, dass die Frau von oben Vorsitzende des Verwaltungsbeirats war.
Inzwischen trampelte sie Leigh nun schon seit fast vier Monaten buchstäblich auf dem Kopf herum. Leighs Nerven schwangen im Takt des Klapper-Klapper mit, das sich jedes Mal, wenn sich ihr Herzschlag auf den Rhythmus eingestellt hatte, in ein Klappetiklapp-Klappetiklapp verwandelte. Sie versuchte, langsam und gleichmäßig Luft zu holen, aber ihre Atemzüge klangen rau und abgehackt und wurden immer wieder von kleinen Japsern unterbrochen.
Als sie ihr Gesicht - dessen Blässe sich an guten Tagen als »vornehm«, an schlechten aber höchstens als »käsig« beschreiben ließ - in der Spiegeltür des Dielenschranks betrachtete, sah sie, dass ihr ein Schweißfilm auf der Stirn stand.
Manchmal kam es ihr so vor, als ob dieses Schwitz-und-Japs-Syndrom bei ihr schon fast zum Gewohnheitsleiden geworden wäre, und zwar auch dann, wenn es über ihr ausnahmsweise einmal nicht polterte. Es passierte immer öfter, dass sie nachts mit Herzrasen aus dem tiefsten Tiefschlaf hochschreckte,
pitschnass im durchgeschwitzten Bettzeug. Erst in der vergangenen Woche beim Yoga, mitten während einer Shavasana, die trotz der A-cappella-Version von Amazing Grace , mit der ihr Lehrer sie aus irgendeinem Grund beschallen musste, vollkommen entspannend gewesen war, verspürte Leigh bei jedem Atemzug einen stechenden Schmerz in der Brust. Und als sich an diesem Morgen die üblichen Pendlermassen in die U-Bahn quetschten - Leigh zwang sich, U-Bahn zu fahren, auch wenn es für sie jedes Mal ein Alptraum war -, hatte sich ihr die Kehle zugeschnürt, und ihr Pulsschlag war ausgerastet. Dafür schien es nur zwei plausible Erklärungen zu geben, und obwohl Leigh gelegentlich durchaus hypochondrische Anwandlungen hatte, konnte nicht einmal sie sich vorstellen, dass sie als Kandidatin für einen Herzinfarkt infrage kam: Also musste es schlicht und ergreifend eine Panikattacke gewesen sein.
Leigh presste sich die Fingerspitzen an die Schläfen und drehte den Kopf hin und her. Doch vergeblich, die Panik ließ sich nicht eindämmen. Es war ein Gefühl, als ob ihre Lunge nur zehn Prozent der normalen Leistung brächte, und als sie sich schon überlegte, wer wohl ihre Leiche finden würde - und wann -, hörte sie durch die Tür ein unterdrücktes Schluchzen, und dann klingelte es noch einmal.
Sie schlich auf Zehenspitzen zum Spion und spähte
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