Ein Sehnen Im Herzen
sie fest, dass alles noch schlimmer - viel schlimmer - war, als sie erwartet hatte. Nicht nur, dass ihr Hahn weggelaufen war, fiel noch dazu Regen, schwerer, undurchdringlicher Frühlingsregen, der den Garten um ihr Häuschen in eine Sumpflandschaft verwandelte. Während der Nacht war auf See ein Sturm aufgezogen, der jetzt mit aller Kraft über die kleine Hebriden-Insel tobte.
Nach einem halben Dutzend Schneestürmen seit Oktober war der Anblick von ganz normalem, kräftigen Regen nicht direkt unwillkommen. Emmas Freude über den Frühlingsschauer wurde allerdings durch die Vorstellung getrübt, dass sie sich durch dieses Unwetter kämpfen musste, um ins Dorf zu gelangen, wo ein Dutzend Kinder in der Schule darauf warteten, dass sie ihnen Unterricht gab.
Emma war nicht die Einzige, die den strömenden Regen mutlos betrachtete. Ihr kleiner Gast setzte zögernd eine Pfote in den Matsch und drehte sich dann zu Emma um, als wollte er sagen: Muss ich? Muss ich wirklich?
Aber genau in diesem Moment wurde der vertrauensvolle, leicht ratlose Gesichtsausdruck misstrauisch, und ein tiefes Knurren drang aus der Kehle der Hündin, das Emma anzudeuten schien, dass nicht nur die Abneigung gegen die Nässe der Grund war. Sie folgte der Blickrichtung des Tieres und entdeckte eine massige Gestalt, die reglos im Schatten unter dem Vorsprung des Strohdachs stand.
»Du lieber Gott«, murmelte Emma und legte eine Hand auf ihre Brust. Ihr Herz fing laut zu pochen an. Wirklich, sagte sie sich, das ist einfach zu viel! Dass man mir vor meinem eigenen Cottage auflauert, während ich noch im Morgenmantel bin... du meine Güte! Und es passierte auch nicht zum ersten Mal. So geht es nicht. So geht es ganz einfach nicht, dachte sie.
Sie öffnete die Augen, die sie geschlossen hatte, um ein kurzes, stummes Dankgebet zu sprechen, dass sie diesen speziellen Eindringling zumindest kannte, und sah die unbewegliche Gestalt an.
»Also wirklich, Mr. MacEwan«, sagte sie mit leicht schlaftrunkener Stimme. »Was machen Sie hier draußen im Regen? Sie haben mich beinahe zu Tode erschreckt.«
Der Riese - denn das war er tatsächlich, ein Riese von einsachtundneunzig, der zusammen mit seiner betagten Mutter auf einem benachbarten Bauernhof lebte - neigte den Kopf. Das Regenwasser, das sich in seiner Hutkrempe gesammelt hatte, ergoss sich in einem Schwall über die Kappen seiner schweren Stiefel.
»Morgen, Mrs. Chesterton«, sagte er in seinem breiten schottischen Akzent und machte ein betretenes Gesicht. »Ich wollte Ihnen keine Angst machen. Ich... ich bringe Ihnen Ihren Hahn zurück.«
Erst jetzt fiel Emma auf, dass ein magerer, leicht zerzauster Vogel unter Cletus MacEwans Arm steckte.
»Ach herrje«, sagte sie. »War er wieder hinter Ihren Hennen her, Mr. MacEwan? Es tut mir ja so Leid...«
»Schätze, er hat vergessen, dass er nicht mehr dort lebt.« Cletus setzte den Hahn auf den Boden. »Aber ich glaub nicht, dass er wieder weglaufen wird. Unser Charlie hat ihm ganz schön Beine gemacht. Wundert mich, dass Sie das Gekreische der beiden nicht bis hierher gehört haben.«
Emma musterte finster den Hahn, der unter den dürftigen Schutz des Vordachs flüchtete und dann hochmütig im harten Boden scharrte, als hätte er keine Ahnung, dass von ihm die Rede war.
»Nein, ich habe nichts gehört«, erwiderte Emma, »und deshalb bin ich heute spät dran. Ich danke Ihnen herzlich, Mr. MacEwan, dass Sie ihn mir zurückgebracht haben.«
Cletus nickte. »Tja, ich denke, ab jetzt bleibt er hier, nach den Hieben, die Charlie ihm versetzt hat.« Dann streckte er verlegen den anderen Arm aus, an dem ein Korb hing, dessen Inhalt mit einem blau-weiß-karierten Tuch bedeckt war.
»Hätte ich fast vergessen«, sagte er. »Meine Mam hat sie gerade gemacht. Scones. Ganz frisch aus dem Backofen.«
Emma nahm den Korb aus seinen schwieligen, wettergeröteten Händen und stellte fest, dass er wieder einmal seine Handschuhe vergessen hatte. Der erste wärmere Frühlingstag und schon ließ Cletus MacEwan seine Handschuhe zu Hause, ohne wie Emma daran zu denken, dass sich das Wetter auf den Shetlands nicht immer an den Kalender hielt. Es konnte mitten im Winter sommerlich warm sein und mitten im Mai kalt wie im Februar, so wie heute.
»Oh, Mr. MacEwan«, sagte sie, wobei sie die Stimme hob, damit er sie trotz des stetigen Rauschens des Regens verstehen konnte. »Vielen, vielen Dank. Aber ich wünschte, Sie hätten das nicht getan...«
Emma wollte nicht einfach
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