Ein sinnlicher Schuft
ihr den letzten Monatslohn auszuzahlen, und in ihren Taschen steckte nichts mehr außer ein bisschen Nähseide und Ersatzknöpfen. Sie konnte nicht einmal die Kostüme verkaufen, denn die hatte Chantal in einem letzten Anfall von Boshaftigkeit zerfetzt.
Der Theaterdirektor ging und überließ sie ihren trüben Gedanken. Bilder einer elenden Zukunft tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr blieb nur die Fabrik, denn eine andere Tätigkeit würde sie kaum finden, denn niemand wollte ein Mädchen, das nichts gelernt hatte und keine Referenzen vorweisen konnte.
Ihr Herz wurde schwer, wenn sie daran dachte. Sie hoffte bloß, dass sie zu den wenigen Glücklichen gehören würde, die eines Tages wieder aus der Fabrik herauskamen. Viele hier im Theater wussten schreckliche Geschichten zu erzählen. Die Arbeit sei äußerst anstrengend und ruiniere die Gesundheit, hieß es. Im Winter froren die Mädchen an ihren Maschinen, und im Sommer war es in den Hallen so heiß, dass manche in Ohnmacht fielen.
Brutale Vorarbeiter machten sich überdies an die Mädchen ran und akzeptierten kein Nein. Schwere Verletzungen waren an der Tagesordnung, denn man geriet mit den Händen leicht in die Maschinen, und es gab kein Gesetz, das den Fabrikbesitzern Einhalt gebot. Doch obwohl die Ausbeutung grenzenlos war, standen die Mädchen Schlange, sobald eine Stelle frei wurde. Die Fabrik war die letzte Zuflucht, und viele wählten sie aus purer Verzweiflung. Besser sie als Evan. Die jüngeren Kinder erlebten dort normalerweise nicht einmal ihren nächsten Geburtstag. Prudence schluckte schwer bei diesem Gedanken.
Du könntest zurückgehen, dann müsste Evan wenigstens nicht verhungern.
Nein! Eher ging sie in die Fabrik! Sie war stärker, als die Leute angesichts ihrer zierlichen Gestalt dachten. Und sie war schlau und vorsichtig. Außerdem, redete sie sich ein und ignorierte dabei den Stein, der zentnerschwer in ihrem Magen zu liegen schien, würde sie nach den Erfahrungen mit Chantal mit allem fertig!
Nur zurückgehen durfte sie auf keinen Fall.
Zweites Kapitel
A ls Colin den Einspänner endlich nach Brighton hineinlenkte, war er erschöpft und frustriert. Trotzdem hätte er beinahe kehrtgemacht und wäre nach London zurückgefahren, als er die lärmende Strandgesellschaft mit ihren lächerlichen Badekostümen und ihren quengelnden, sonnenverbrannten Kindern erblickte.
»Mai in Brighton. Was habe ich mir nur dabei gedacht?«
Dass er die reizende Chantal wiedersehen würde– zumindest hatte er das gehofft. Allein die Erinnerungen an sie: an ihren Liebreiz, ihre Schönheit, ihre verführerische Figur und an ihre Leidenschaft, nachdem er es erst geschafft hatte, ihre strengen moralischen Anschauungen zu überwinden…
Er berührte den Rücken seines Pferdes leicht mit der Peitsche, um es anzutreiben.
Chantal wartet!
Doch wie sich herausstellte, tat sie das nicht.
Schon das Theater war eine einzige Enttäuschung. Colins Blick glitt über die abgewetzten, schäbigen Samtsitze und die abblätternde Farbe an den Holzrahmen der Bestuhlung und an der Bühne, bevor er sich an einen stämmigen Mann wandte, der sich ihm als Direktor des Theaters vorstellte. Melody stand zwischen ihnen, einen Arm um Colins Schienbein geschlungen, und schaute sich ehrfürchtig um.
»Sie kommt nicht zurück?«, fragte Colin. »Sicher?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Warum sagen bloß alle dasselbe? Sie kommt nicht zurück, ich will sie nicht zurück, und sie ist in keinem anderen Theater der Stadt willkommen!« Theatralisch warf er die Hände in die Luft und marschierte verärgert vor sich hinmurmelnd davon.
Colins Knie drohten nachzugeben, und so setzte er sich erst einmal auf den Bühnenrand. Wenigstens war es hier drinnen kühl und dämmrig, eine angenehme Erholung nach der staubigen Straße und dem gleißenden Sonnenlicht. Melody kletterte sofort auf seinen Schoß und lehnte den Kopf an seine Brust. Er legte einen Arm um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Locken.
»Onkel Colin, ich bin müde. Ich will zurück zu Maddie und Onkel Aidan, in mein Zimmer und in den Garten oder in den Club zu Wibblyforce und Billiwick…« Plötzlich war sie eingeschlafen. Typisch Melody: Entweder sie lief auf vollen Touren, oder sie schlief.
Am liebsten hätte sich Colin auch irgendwo zusammengerollt. Sollte alles umsonst gewesen sein? All die Stunden auf der Straße, die ständigen notgedrungenen Pausen und all die Gräuelgeschichten von mordlüsternen
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