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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Unterarme waren voller Farbe, der Pinsel in die Luft gehoben. Ich wusste, dass ich eine Grenze überschritt, ich wusste , dass ich die Blase der Abgeschiedenheit kaputt machte, in der er sich einschloss, ich wollte nur, dass er sich umdrehte und … mich sah. Die Sommersprossen, die sich am Vortag auf meiner Nase gebildet hatten, die Zöpfe, die ich mir geflochten hatte wie früher als kleines Kind, und dass er den Duft nach Geißblatt roch, der mich umhüllte, weil ich mit Rory den ganzen Vormittag durchs Gebüsch gestreift war, die Freiheit genießend, die wir bei unserer Mutter in New York nicht hatten.
    Ich berührte ihn also am Ellbogen, und er fuhr herum. Er ließ den Pinsel fallen, und in seinen Augen lag reine Dunkelheit. Ich erinnere mich wieder ganz genau daran, jetzt, hier auf dem Steg, dass er praktisch tot war. Innerlich tot. Dass sein dunkler Raum noch öder geworden war, auch wenn das angesichts der Flüche, die ihn verfolgten, eigentlich gar nicht möglich war. Seine Pupillen waren groß wie Untertassen, das Weiß seiner Augen knallrot, die Ringe unter den Augen schwarz wie Ruß. Er sieht mich nicht , dachte ich. Er sieht gar nichts.
    Mir war sofort klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte, ich erkannte meine dumme Unverfrorenheit, aber da war es schon zu spät. Als hätte ich eine Klapperschlange geweckt. Wenn man erst mal auf sie getreten ist, kann man nicht mehr so tun, als wäre nichts passiert.
    «Was haben wir für eine Regel?», brüllte er mich an. «Wie lautet die einzige beschissene Regel, die hier gilt, Eleanor Margaret Slattery?» Sein Atem brannte auf meinen Wangen, er war durchtränkt von Schnaps und Bier und weiß Gott was noch. Er packte mich an den Oberarmen und hob mich in die Luft. Das war der Augenblick, als sich das Bedauern, ihn gestört zu haben, in pure Angst verwandelte. Ich hatte Angst, er würde mir, weil er so verstört war, so außer sich in seiner depressiven Trance, ernsthaft weh tun. Er fing an, mich zu schütteln, zuerst langsam und dann schneller und immer schneller, bis ich hin und her schlenkerte wie eine von Rorys geliebten Lumpenpuppen. Ich fing an zu weinen, flehte ihn an, mich runterzulassen. Seine Finger gruben sich in mein Fleisch und quetschten meine Muskeln.
    Ich schluchzte, als er mich endlich losließ und mich brutal gegen die Couch schleuderte wie ein altes paar Socken.
    Wir erstarrten beide, als die Wirklichkeit zu ihm durchsickerte. Angesichts der Tragweite dessen, was gerade passiert war, kehrte ein Funken Menschlichkeit in ihn zurück. Wir wussten, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen und es nie wieder ungeschehen machen konnten. O Gott, wie ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen! Wäre ich doch nur nie ins Atelier gegangen, hätte Rory sich nur nie die Schultern verbrannt, hätte Wes sich nur nie den Zahn ausgeschlagen! Dann wäre mir nicht so langweilig gewesen, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, die einzige Regel zu brechen, die man nie brechen durfte. Doch dann drehte er sich um, wandte mir den Rücken zu, drehte die Stereoanlage noch ein bisschen lauter – «Gonna ramble on! Sing my song» – und packte den Pinsel, der zu Boden gefallen war und den Orientteppich ruiniert hatte.
    Als ich endlich wieder Luft bekam, rannte ich, so schnell mich meine dreizehn Jahre alten Beine tragen konnten, den Hügel hinunter. Meine Füße flogen vor mir her, Kieselsteine stoben zur Seite. Ich zerrte mir noch im Laufen das T-Shirt über den Kopf und wollte mich gerade in den tröstenden See stürzen, als mein Fuß umknickte. Heute, neunzehn Jahre später, höre ich es immer noch krachen, spüre den stechenden Schmerz im Unterschenkel heraufziehen. Dann fiel ich hin, eigentlich versehentlich, weil ich umgeknickt war, aber auch vor Schmerz und Trauer. Die Planken des Stegs kamen mir entgegen, und der Schmerz in meinem Fußgelenk wich einem heftigen, brennenden Schlag an der Schläfe, an der Stelle, wo mein Kopf auf die Kante einer Planke traf. Als ich hineinfiel, spürte ich – nur für den Bruchteil einer Sekunde – die überraschende Kühle des Wassers. Und dann spürte ich überhaupt nichts mehr.

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    I n der Küche sitzt Wes. Ich schleiche auf Zehenspitzen hinein, damit meine Mutter, Peter oder Rory nicht mitbekommen, dass ich zurück bin. Wes schreibt auf seinem Laptop, die Finger fliegen über die Tastatur, auf seiner Stirn zeichnen sich so viele Falten ab wie bei einem Fächer. Ich schiebe die Glastür hinter

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