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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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glänzenden, blonden Haare, die ihm in die Stirn fallen und sie fast verdecken –, dass diese Augen dieselben sind, die mein Vater in seinem Skizzenbuch verewigt hat. Dass sie über mich gewacht haben und dass mir mein Vater damit vielleicht tatsächlich eine Botschaft geschickt hat, auch wenn diese Botschaft durch seine finstere Verschlüsselung unlesbar war. Es war seine eigensinnige Chiffre, um mir zu sagen, dass es da draußen jemanden gibt, der an meiner Seite steht, auch wenn er selbst es nicht mehr konnte. Mein Vater konnte nicht ahnen, dass sein Buch mich nie erreichen würde und dass ich, als es endlich doch in meine Hände gelangte, die Fähigkeit verloren hatte, die Botschaften überhaupt zu entschlüsseln.
    Oder auch nicht. Vielleicht mache ich alles viel komplizierter, als es ist. Vielleicht wollte mein Vater nur, dass nach seinem Verschwinden ein Stück von ihm bei mir blieb, ein letzter Akt der Gemeinheit, und vielleicht muss ich endlich damit aufhören, alles, jede Sehnsucht, jeden einzelnen Atemzug, daran festzumachen, was er für mich war, was er für mich bedeutete und wie ich der Erinnerung an ihn wieder habhaft werden kann. Vielleicht war es auch einfach nur seine Entschuldigung – dafür, dass er eine Erwartungshaltung an mich hatte, die ich nie erfüllen konnte, dafür, dass er diese Haltung auch dann nicht aufgab, als klarwurde, wie hoch der Preis für mich war. Dafür, dass er mich nicht freigelassen hat, damit ich endlich die Musik machen konnte, die in mir brannte.
    «Okay. Eine Frage: Wieso hast du mir die Schlüssel geschickt?», will ich schließlich wissen und reiße Wes damit aus seinen Gedanken.
    «Es gab einen Pakt zwischen uns», erzählt er und streicht sich die Haare aus den Augen. «Als deine Mutter in jenem Sommer kam, um euch abzuholen, haben wir uns was versprochen. Kurz bevor du gefahren bist – während deine Mutter unten gewartet hat und meine völlig ausgeflippt ist, weil unser Vater es so weit hat kommen lassen –, haben wir beide einen Pakt geschlossen.» Tief unten aus seiner Kehle drängt ein Lachen empor. «Du hattest gerade Blumen der Nacht gelesen, und als dann in den letzten Tagen hier alles so drunter und drüber ging, hast du darauf bestanden, dass wir zusammenhalten müssen. Wir haben diese Gruselnummer abgezogen, uns in die Finger geritzt und unser Blut vermischt.»
    «Blut vermischen ist nie ein gutes Zeichen.»
    «Ich weiß – voll das Klischee, oder?» Er lächelt. «Jedenfalls haben wir unsere Zeigefinger aneinandergerieben und uns versprochen, aufeinander aufzupassen, einen Weg zu finden, trotz allem eine Familie zu bleiben.» Er zuckt mit den Achseln. «Dann ist Dad irgendwann zu euch zurückgezogen, und schließlich ist er ganz von der Bildfläche verschwunden, bis vor ein paar Jahren …»
    «Was? Bis vor ein paar Jahren?», falle ich ihm ins Wort. «Hast du ihn wiedergesehen?»
    Er zögert. «Ehe meine Mutter starb. Sie muss gewusst haben, wie man ihn erreichen kann, oder sie hat jemanden gekannt, der Kontakt zu ihm hatte. Eines Mittwochnachmittags kurz nach der Diagnose stand er auf einmal da. Ich wäre normalerweise gar nicht hier gewesen – ich habe eine Firma für Graphikdesign in der Stadt –, aber Mom ging es nicht gut wegen der Chemo …»
    «Krebs?», frage ich.
    «Ist es nicht immer Krebs?», fragt er zurück und nagt mit den Zähnen am Nagel seines Ringfingers. «Er hat erst geklopft und dann einfach aufgesperrt – wahrscheinlich ist meine Mutter nie auf die Idee gekommen, das Schloss auszutauschen, vielleicht hat sie es aber auch absichtlich nie getan, weil sie wusste, dass er noch einen Schlüssel hat. Ich schwöre dir, das war der surrealste Augenblick in meinem ganzen Leben. Francis Slattery, zwanzig Jahre lang wie vom Erdboden verschluckt, steht plötzlich mitten in meinem Wohnzimmer.»
    Während Wes redet, wird meine Lunge immer enger und enger, als würde mich jemand langsam erwürgen, damit ich mitkriege, wie ich ersticke, aber trotzdem so schnell, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. Ich fächle mir mit beiden Händen Luft zu.
    «Bitte hör auf!» Keuchend schnappe ich nach frischer Luft.
    Er sieht mich einen Augenblick lang verständnislos an, bis er merkt, dass ich keine Luft mehr kriege.
    «Scheiße!» Er massiert mir den Rücken. «Tut mir leid! War das zu viel? Sollte ich dir das besser nicht erzählen?»
    Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Die Erkenntnis, dass er ihretwegen zurückgekommen ist, meinetwegen

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