Ein Sommer und ein Tag
aber nicht, hat mir buchstäblich den Atem geraubt. Doch das ist zu peinlich, um es zuzugeben.
Ich scheiß auf dich, Vater! Ich kann nicht fassen, dass ich dir die ganze Zeit nachgejagt bin und du dich einen feuchten Dreck um mich geschert hast. Du kommst noch nicht mal nach einem Flugzeugabsturz zu mir zurück, trotz Amnesie, obwohl mein Leben sich in ein Trümmerfeld verwandelt hat!
Genau, wie meine Mutter es mir prophezeit hat, genau das, was ich nicht akzeptieren wollte, trotz aller drückenden Beweise. Und hier sitze ich und jage ihm immer noch nach! Scheiß auf dich, neues Ich! Scheiß auf dich, altes Ich! Wer kann ich jetzt noch sein?
«Mach einfach bei dem weiter», keuche ich, «was du mir vorher erzählt hast. Warum wir uns aus den Augen verloren haben.»
«Okay.» Er zögert und sieht mich lange an, während seine Hand zwischen meinen Schulterblättern weiter konzentrische Kreise beschreibt. Er sieht zum Haus hinauf, überlegt wohl, ob er Hilfe holen soll.
«Alles gut», sage ich etwas kräftiger. «Erzähl bitte weiter.»
«Gut. Wir haben also diesen Schwur abgelegt, uns geschworen – Gott, wie naiv das heute klingt –, also, wir haben uns geschworen, eine Familie zu bleiben.»
Naiv? , denke ich. Ich finde, es klingt schön, es hört sich an wie ein Wunder.
«Und zwar vor dem Zeitalter von E-Mails und Google», fährt er fort. «Unsere Eltern haben nicht miteinander gesprochen, und uns haben sie es erst recht verboten … Ich habe dir eine Zeitlang Briefe geschrieben.» Er reibt sich mit den Händen über das Gesicht, und ich wickle mir den Schal fester um die Füße. Langsam kehrt das Blut in meine Zehen zurück. «Na ja, ein Jahr verging, dann das nächste, und schließlich kam es mir einfach so vor, als hättest du genug mit deinem eigenen Leben zu tun. Meins hatte mich jedenfalls definitiv an den Eiern – das College gehört nicht zu meinen Glanzzeiten. Im zweiten Jahr bekam ich Unterrichtsausschluss, danach wurde ich eingebuchtet, weil ich Gras vertickt habe.»
«Gras? Schon wieder ein Klischee.»
«Was du nicht sagst.» Er grinst.
«Mein Gott, sind wir verkorkst!»
«Nicht mehr», widerspricht er.
«Jetzt sprichst du von dir.»
«Okay, aber bei dir gelten mildernde Umstände. Man überlebt schließlich nicht jeden Tag einen Flugzeugabsturz und verliert dabei sein Gedächtnis.» Wir müssen beide lachen – weil es wahr ist, weil es traurig ist, weil es völlig albern ist. «Na ja, damals habe ich es jedenfalls irgendwann aufgegeben – habe die Idee von uns als Familie losgelassen.»
«Aber du hast mir trotzdem die Schlüssel geschickt.»
Er seufzt laut, als würde er sich damit Erleichterung verschaffen. «Meine Mutter ist gestorben.» Er zuckt mit den Achseln. «Das verändert einen. Es löst etwas in einem aus. Und dann habe ich auf dem Speicher dein Bild gefunden. Ich hatte das Gefühl, es wäre die richtige Gelegenheit, um wieder in Kontakt zu kommen, zu versuchen, was Neues aufzubauen.» Seine Stimme wird rau. «Ich habe sonst niemanden mehr, weißt du? Die Schlüssel waren eine Einladung, zu mir zurückzukommen.»
«Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, weshalb ich nicht reagiert habe.»
Er hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen. «Die Situation war ziemlich kompliziert. Ich bin mir sicher, dass ein Teil von dir uns für die ganze Katastrophe verantwortlich gemacht hat.»
«Du klingst ganz schön vernünftig. Wenn ich mir den ganzen Wahnsinn so ansehe, der mich umgibt, kann ich nicht glauben, dass wir verwandt sind.»
«Ach ja, wo wir gerade beim Thema sind, deine Mutter steht in diesem Augenblick in unserer Küche und dreht durch.» Er kichert. «Die Klamotten sind anders – als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie sich mit ihrem besten Spätachtziger-Trainingsanzug herausgeputzt –, aber sonst hat sie sich kein bisschen verändert.»
«Komisch», sage ich. «Sie behauptet, an ihr gäbe es nichts, das sich nicht verändert habe.»
«Tja, so ist das mit der Selbstwahrnehmung», bemerkt er und steht auf, um mich in Ruhe zu lassen. «Sie täuscht einen.»
«Ich dachte, das Karma bedingt die Selbstwahrnehmung.»
Er runzelt die Stirn und denkt nach. «Das eine schließt das andere ja nicht aus.»
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30
«Ramble On»
Led Zeppelin
***
S eit ich den Song gefunden habe – ich habe den ganzen iPod durchstöbert und mich dazu gezwungen, ihn anzuhören –, seit ich also den Song gehört und mich wieder erinnert habe, kann ich
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