Ein Sommer und ein Tag
nicht begreifen, wieso ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Dass die Musik der Schlüssel dazu ist, den Augenblick wiederzufinden, der alles in Bewegung gesetzt hat.
In mir formt sich eine quälende Verzweiflung, nicht allein wegen dem, was an jenem Tag geschehen ist, sondern weil ich so viele Monate meiner Kindheit geopfert habe, mich gleichzeitig daran festzuklammern und davor wegzulaufen. Aus meinem tiefsten Inneren löst sich ein animalischer Schrei. Wie lange habe ich mich von ihm definieren lassen? Selbst noch, als ich mir als erwachsene Frau eingeredet habe, es sei nicht so. Ich packe einen Zweig, der auf dem Steg liegt, und schleudere ihn ins Wasser. Er treibt einen Moment lang auf der Oberfläche und geht dann unerklärlicherweise unter. Für immer. Offensichtlich habe ich zugelassen, dass er mich für immer definiert. Egal, welche Version meiner selbst ich zu einem beliebigen Zeitpunkt verkörpert habe, waren sie letztendlich nicht alle eine Reaktion auf ihn?
Der Song läuft immer noch – «Ramble On» von Led Zeppelin, auf Wiederholung gestellt. Ich wende mich vom Wasser ab, und dann sehe ich es. Das Atelier meines Vaters: Es liegt links vom Steg, unter einem Dach aus Bäumen, mit freiem Blick auf den See, von dem er behauptete, er würde ihm Ruhe geben. Aber wer zum Teufel weiß schon, was ihm wirklich Ruhe verschafft hat? Alkohol? Mit Sicherheit. Kokain? Ab und zu auch das. Aber ich glaube, sein größtes Geheimnis war, dass ihm in Wirklichkeit nur sein Schmerz, seine Verzweiflung, die Depressionen, in die er versank, die er sogar mit offenen Armen umfangen hat , Ruhe verschaffen konnten. Unmöglich, das mit dreizehn zu erkennen. Aber jetzt, zwanzig Jahre später, unmöglich, es zu übersehen.
Ich war an jenem Nachmittag zum Atelier meines Vaters geschlendert. Wes war beim Zahnarzt, weil er sich beim Baseballtraining einen Zahn ausgeschlagen hatte – ein verirrter Schläger flog durch die Luft –, und Rory lag mit Sonnenbrand im Haus. Ohne meine Mutter gab es niemanden, der darüber wachte, ob wir vier Gläser Cola am Tag tranken oder ob wir uns mit Sonnencreme einrieben, und deshalb hat Rory sich am Vortag die Schultern krebsrot verbrannt. Sie weinte das ganze Abendessen über vor Schmerzen, und Heather hat etwas Aloe Vera von ihrer Staude abgebrochen und die Schultern mit dem Pflanzensaft eingerieben, nur mein Vater entschuldigte sich, ging in sein Atelier und kam nicht wieder. Wir hatten alle Kopfweh von Rorys Gejaule, aber mein Vater war der Einzige, der es nicht ertragen konnte. Wir anderen aßen unsere Nudeln und wussten, dass das der Preis für ein freies Leben ohne Regeln war. Man konnte zwar vier Gläser Cola am Tag trinken, aber manchmal verbrannte man sich eben auch.
Mir war also langweilig. Zwanzig Jahre später sitze ich hier auf dem Steg und spüre die faule Lustlosigkeit in meinen Adern. Ich war hierhergekommen, um den Sommer mit ihm zu verbringen – ich hatte mich für ihn entschieden –, und er war nie da, und wenn er da war, war er schlecht gelaunt. An dem Tag, als Wes beim Zahnarzt war und Rory im Bett, zupfte ich eine Weile lang Gras aus und beobachtete, wie es aus meiner Hand wieder auf den Boden fiel, doch dann entschloss ich mich, zu ihm zu gehen, eine der wenigen Regeln zu brechen, die für uns galten. Stört ihn nie , sagte Heather am Anfang zu uns. Nicht wenn er arbeitet. Wir drei – Wes, Rory und ich – nickten eifrig, uns der Ernsthaftigkeit dieses Vergehens voll bewusst, und liefen dann in unseren Schlafanzügen hinaus ins Freie, um Glühwürmchen zu fangen.
Aber an jenem Tag fühlte es sich anders an. Ich hatte ihn, abgesehen von der kurzen Stippvisite beim Abendessen am Tag zuvor, kaum gesehen, ich war dreizehn, ich testete meine Grenzen, lehnte mich auf gegen das, was von mir erwartet wurde, und ich wollte verdammt noch mal endlich ein bisschen Aufmerksamkeit von ihm!
Er arbeitete. Die Stereoanlage war voll aufgedreht: Led Zeppelin dröhnte so laut, dass die Gitarre in meinen Ohren weh tat.
«Mine’s a tale that can’t be told, my freedom I hold dear. How years ago in days of old, when magic filled the air.»
Ich betrat das Atelier. Er hörte mich nicht, obwohl die Tür knarrte, und ich rief: «Dad! Dad?»
Näher und näher schlich ich mich heran, aber er bemerkte mich immer noch nicht, vielleicht ignorierte er mich auch mit Absicht. Schließlich streckte ich die Hand aus und berührte ihn am Ellbogen, der regungslos in der Luft hing. Die
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