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Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bost
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Augenblicken auf der Straße, wo sie nichts zerbrechen und durcheinanderbringen konnten. Und die kleine Mireille bezauberte ihn.
    »Das ist unerhört!«, sagte Monsieur Ladmiral. »War der Zug mal wieder zu früh?«
    Edouard setzte ein dünnes, leicht genervtes Lächeln auf und zog seine Uhr aus der Westentasche.
    »Das würde mich wundern«, sagte er. »Handelt es sich nicht eher um deine berühmten acht Minuten?«
    »Eines ist sicher«, sagte Monsieur Ladmiral und zog gleichfalls eine schwere Uhr aus einer Zelluloid- und Glimmerschachtel hervor, »und zwar, dass ich genau neununddreißig aufgebrochen bin.«
    »Und wie viel Uhr hast du jetzt?«
    »Einundfünfzig, gleich zweiundfünfzig.«
    »Du bist hinterher; nach der Uhr an der Gare de Lyon ist es genau …« Edouard hielt seine Uhr am ausgestreckten Arm hoch und warf seinen Oberkörper nach hinten:
    »… siebenundfünfzigeinhalb.«
    »Du wirst altersweitsichtig«, ließ sich Monsieur Ladmiral vernehmen, der kurzsichtig war. Dann steckte er seine Uhr in seine Tasche zurück.
    »Lassen wir das«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Hattet ihr eine gute Reise?«
    »Nein«, rief die kleine Mireille vom Boden hoch.
    »Hört ihr das?«, sagte Großvater und beugte sich liebenswürdig zu ihr herab. »Was ist dir denn widerfahren?«
    »Sie hat gekotzt«, sagte Lucien, der Elfjährige.
    Die Eltern und der Großvater zuckten zusammen. Edouard machte sogar eine Bewegung, als wollte er sich auf seinen Sohn stürzen, doch Lucien, der das vorhergesehen hatte, war bereits außer Reichweite.
    »Wie oft habe ich dir verboten, dieses Wort zu verwenden!«, riefen Edouard-Gonzague und seine Frau im gleichen Atemzug.
    »Wie sagt man denn?«, erkundigte sich Lucien, der treuherzig strahlte.
    »Es heißt: Sie hat sich übergeben!«
    »Es heißt: Sie hat sich erbrochen!«
    Vater und Mutter hielten inne, verlegen und zornig wegen dieser Uneinigkeit, die ihre Autorität in Sachen Wortschatz und gutes Benehmen infrage stellte. Lucien, der sich in gesicherter Entfernung jedes Lachen verkniff und innerlich jubilierte, sah die beiden an und strahlte – mit großen runden Augen und halbgeöffnetem Mund – vor Unschuld. Er hielt ihnen seine ausgebreiteten Hände entgegen, als wollte er sagen: »Einigt euch bitte! Wie, glaubt ihr wohl, finde ich mich da zurecht?« Er verdiente ein paar Ohrfeigen, er forderte sie heraus. Was tun?
    Zum Glück gelang es Emile, dem älteren Bruder, im selben Augenblick, sich so hinzustellen, dass er Lucien einen Stock zwischen die Beine schieben konnte, dieser auf einen Steinhaufen fiel und sich ordentlich wehtat. Auf diese Weise war der Schuldige bestraft und die Aufmerksamkeit umgeleitet – ein doppelter Nutzen.
    »Das wird dich lehren, auf deine Füße zu achten«, sagte der Vater.
    Lucien, der mit blutigen Knien aufstand, fühlte sich in diesem Moment so schlecht, dass er darauf verzichtete, loszuheulen und sich über seinen Bruder zu beschweren. Das war eine dieser Angelegenheiten, bei denen Eltern zu nichts nütze waren. Lucien hob einen Stein auf und tat so, als wolle er ihn seinem Bruder an den Kopf werfen, während er rief: »Ich mach dich kalt!« Aber natürlich ging er nicht so weit, den Stein zu werfen. Sein Bruder stand wirklich zu nah bei ihm; er hätte ihn womöglich getroffen. Die Kinder verstanden es sehr gut, sich mit Drohungen zu begnügen, wenn die Gefahr unmittelbarer Vergeltung bestand. Lucien beschränkte sich, um sein Gesicht zu wahren, darauf, den Stein mit aller Kraft in ein Feld neben der Straße zu schleudern. Zwei Rebhühner flogen mit einem Getöse auf, das wie Beifall klang. Emile und Lucien warfen sich in das Getreide und traten die Ähren nieder. Der eine brüllte »Wachteln!«, der andere »Fasane!«. Bald sah man sie nicht mehr.
    Monsieur Ladmiral und die Seinen gingen weiter. Sie durchquerten das Dorf, und der alte Maler zog vor den Passanten den Hut. Um seinem Vater eine Freude zu machen, tat sein Sohn es ihm nach. Monsieur Ladmiral gab dazu Erklärungen ab:
    »Das ist der Bürgermeister. Und das die Witwe des Holzhändlers. Und das, du weißt, Monsieur Tourneville, der Sohn des Jockeys.« Gonzague, der niemanden kannte oder wiedererkannte, antwortete jedes Mal, um seinen Vater zu erfreuen:
    »Ja, ausgezeichnet. Sehr gut. Ah! Ja … Jockey. Ich erinnere mich tatsächlich …«
    Seine Frau Marie-Thérèse, die der Fußweg nicht ermüdete, vielmehr langweilte, schwitzte unter einer Regenjacke, die sie Gummimantel nannte

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