Ein Spiel, das die Götter sich leisten
Daumen lutschen. Sie wollen zur Weisheit zurück, an die sie sich dunkel erinnern können.
Das war nicht die Geschichte, die ich hatte hören wollen. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muß viel leiden, hieß es beim Prediger Salomo, doch ich behielt es für mich. Konnte es sein, daß Oriana nicht das geringste Gespür dafür hatte, wie ich mich gerade fühlte?
Wir hatten in einem Hinterhof ein Café gefunden, wilder Wein rankte von den Wänden, und nur einer der Tische war besetzt, von älteren Männern, die eine Karaffe Rosé vor sich stehen hatten. Wir setzten uns in den Schatten, bestellten Frühstück. So etwas hatte Oriana sich anscheinend vorgestellt, sie legte die Hände auf den Tisch und beugte sich ein wenig vor. Ich betrachtete die Finger, die Monde an den Nägeln, die Falten über den Knöcheln. Meine Lust kehrte nicht zurück. Oriana hob die Rechte und legte mir ihren Zeigefinger in die Mulde zwischen den Schlüsselbeinen.
Wir saßen an einem ruhigen Plätzchen, der Wein bewegte sich weich im Wind, wir warteten auf unser Frühstück, die Männer tranken schweigend, und Oriana schien glücklich zu sein. Sie streifte die Sandalen von den Füßen und lehnte sich zurück, faltete die Hände auf dem Bauch. Das Licht war süß, es war den Augen lieblich, die Sonne zu sehen, wir würden essen und trinken, es würde uns an nichts mangeln. Ich wollte noch möglichst lange so dasitzen, ich wollte, daß der Kellner trödelte und es Ewigkeiten dauerte, bis unsere Bestellung kam. Ich wollte nichts tun müssen, es würden andere Zeiten und Gefühle kommen. Vielen ging es schlechter, ich hatte keinen Grund für Selbstmitleid. Aber trotzdem.
Schon von weitem sah ich diesen Mann langsam, aber zielstrebig auf das Tor zugehen. Sein Gang kam mir vertraut vor, aber ich wußte nicht, woher. Während ich versuchte, mich zu erinnern, kam er näher, und man konnte sein Gesicht erkennen. Ich wollte nicht glauben, was ich sah. Er ging an uns vorbei, merkte, wie ich ihn anstarrte, drehte den Kopf, lächelte, zwinkerte mir zu. Die Männer nickten ihm kurz zu, und er erwiderte den Gruß, bevor er sich an einen Tisch an der Wand setzte.
Er sah alt aus, sein Anzug wirkte etwas abgetragen. Als er sein Jackett auszog, konnte man sehen, daß sein weißes Variohemd zerknittert war. Er wirkte trotzdem elegant, hielt sich sehr gerade, die Bewegungen waren geschmeidig, doch seine Augen hatten an Glanz verloren, sie waren lange nicht mehr so schön, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich überlegte, wie alt er wohl gewesen sein mochte, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Knapp über dreißig vielleicht, dann war er jetzt etwa Mitte Fünfzig, doch er wirkte älter. Seine Haare waren ergraut und schütter, das Gesicht war faltig, er wirkte wie jemand, der zu lange für etwas gekämpft hat.
– Kennst du den? fragte Oriana, als ihm der Kellner eine grünliche Flüssigkeit und Eiswasser hinstellte. Unser Frühstück ließ noch auf sich warten. Unsere Getränke auch.
Ich wandte zum ersten Mal meinen Blick ab und sah Oriana an. Ich hatte das Gefühl, als könne ich jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Ich nickte langsam, überlegte, was ich sagen sollte, dann murmelte ich: Moment, stand auf, schob meinen Stuhl zurück, versuchte tief in den Bauch zu atmen, um mich zu beruhigen, um zu verhindern, daß meine Stimme zitterte oder sich überschlug. Ich ging zu ihm und fragte:
– Monsieur Borell?
Er schaute von seinem Getränk auf, sah mich ohne allzu großes Interesse an und sagte freundlich: Oui. Qu’est-ce que vous voulez?
Ich wünschte, ich hätte lange Hosen an, ich wünschte, ich hätte Hosentaschen, um meine Hände darin zu verstecken. Mein Französisch war miserabel, also sprach ich türkisch.
– Ich kenne Sie aus Istanbul. Mehr fiel mir nicht ein.
– Ich kann mich nicht an dich erinnern, erwiderte Borell auf türkisch.
– Ich war damals noch ein kleiner Junge. Sie sind jeden Tag in dieses Holzhaus gegangen, und ich habe oben an der Straße auf einem großen Stein gesessen und Sie beobachtet, jeden Tag. Er sah mich jetzt genauer an, schien zu überlegen.
– Du warst immer nur im Sommer da, richtig? sagte er.
– Ja, richtig.
Ich war erstaunt, daß er sich an mich erinnern konnte. Hatte ich tatsächlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen?
– Möchtest du dich setzen? fragte er. Kann ich dir etwas zu trinken bestellen? Ist das dort deine Freundin? Ruf sie doch her.
– Gerne,
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