Ein Stueck vom Himmel
Fünf Minuten später wirbelten die ersten Schneeflocken durch die Luft, finster wurde es über uns, und ein Schneesturm begann.
Jetzt hätte Scarpietti seine Handschuhe »verspeisen« müssen! Doch bevor wir uns an den Abstieg machten, musste er noch etwas anderes erledigen ... »Liebe Freunde, ich muss zuerst noch austreten.«
Wir überließen ihm einen kleinen Felswinkel in der Steilrinne und zogen uns diskret auf die andere Seite der Rinne zurück. Dort warteten wir. Sehr lange. Scarpietti war in dem Schneetreiben nur als schemenhafte Gestalt sichtbar. Plötzlich hörten wir ihn laut schimpfen, sogar das Wort »Scheiße« verwendete unser Sir.
Was war geschehen?
Scarpietti hatte seine Handschuhe ausgezogen und in den Schnee gelegt. Dann verlor er auf dem winzigen Platz etwas die Orientierung und ... schiss auf seine schönen neuen Handschuhe! Auf jene Handschuhe, die er verspeisen wollte, wenn es an diesem Tag einen Wettersturz gibt.
Sir Scarpietti ist wortbrüchig geworden.
Ernst und die Traubenkur
Eigentlich passt der Dr. Ernst Peinel nicht recht zu unserem bunten Haufen. Während wir alle das Bergsteigen recht locker betrieben, nahm es Ernst sehr ernst.
Keiner von uns »stählte seinen Körper, um am Berg zu bestehen«. Nur einmal sah ich Schwanda bei Klimmzügen am Türrahmen. Das war an einem Regentag in einer Schutzhütte, wo als Gaudi eine Klimmzug-Olympiade inszeniert wurde. Schon nach dem zweiten Klimmzug gab er auf ... »I bin ja kein Aff!«
Keiner von uns »führte seinem Körper die fürs Bergsteigen notwendigen Kraftreserven zu«. Als wir an einem schönen Herbstwochenende in den Gosaukamm fuhren, war Ernst mitten in einer Traubenkur zur Entschlackung des Körpers. Das brauchen die Organe, das sollten wir alle auch tun. »I brauch keine Entschlackung, i bin ja kein Hochofen!«, hatte der Hausner Hansl darauf gesagt.
Während wir in der Hütte Wurst und Käse aus unseren Rucksäcken gezogen hatten, saß der Ernst vor einer Proviantdose, die prallgefüllt mit Weintrauben war, und schob eine Beere nach der anderen in den Mund. Weintrauben sind was Gutes ... aber nur Weintrauben? »Magst nicht ein Stückl Wurst?«, fragte ich ihn. Ernst lehnte das Angebot ab. Er wollte nicht seine Entschlackung durch einige Wurstblattl gefährden.
Noch im Morgengrauen zogen wir los. Ernst schleppte so wie immer einen Riesenrucksack. Er wollte immer für alle Notfälle gerüstet sein. Er hatte nicht nur Reserveschuhbänder und Reservemauerhaken mit, mit seiner Notfall-Apotheke hätte ein Arzt wahrscheinlich sogar eine Blinddarm-Operation durchführen können.
Doch sonst war Ernst diesmal nicht so wie immer: Er rannte diesmal nicht voraus in einem Tempo wie ein wilder Stier auf der grünen Weide. Er ging mit uns und war auf dem langen Zustieg sichtlich froh über die kleinen Verschnaufpausen.
Wir wollten an diesem Tag an der Vorderen Kopfwand die Direkte Nordwestkante erklettern. Das ist nach dem Dachsteinführer von Willi End »ein hervorragender luftiger Anstieg in steilem, festem Fels mit herrlichem Tiefblick zum Hinteren Gosausee«. Berühmt ist der Überhang an der Kopfwandkante. Der schaut genauso aus, wie ein zünftiger sauschwerer Überhang auszuschauen hat – ist aber nicht so schwer, weil es gute feste Griffe an ihm gibt. Bei Kletterkursen wird er gerne mit den Besten des Kurses als Krönung gemacht.
Auch beim Klettern war unser Ernst nicht so wie immer. Als Seilzweiter legte er sonst allergrößten Wert darauf, dass das Seil über ihm stets locker blieb. Er wollte kein Mehlsack sein, der über eine Wand hinaufgezogen wird. Diesmal war er mucksmäuschenstill, wenn ich ihm diskret leichten Seilzug gab.
Und dann kamen wir zu dem berühmten Überhang, an dem man weit spreizen muss und zwischen den Beinen auf den Gosausee hinunterschauen kann. Da verließ den Ernst das letzte Patzerl Kraft und er sagte etwas, was vor seiner Entschlackung noch keiner von uns je von ihm gehört hatte: »Bitte, Zug!«
Wenn einem Wiener etwas nicht gutgetan hat, von dem er glaubte, dass es ihm guttun würde, dann sagt er: »Warum hab i die Krot (Kröte) gfressen?«
Warum hatte der Ernst die ganze Woche lang nur Weintrauben gefressen?
Nach der Kopfwandkante bestellte er im Gasthaus ebenfalls ein Gulasch. Doch sein Glaube an die Wunderkraft von Wunderkuren zur Gewinnung von Kraftreserven blieb ungebrochen. Im nächsten Jahr tankte er tropische Kraftsäfte ... So war er, unser Ernst.
Pauli, mach ein Gedicht!
Seinerzeit
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