Ein stuermischer Retter
unwirklich vor. Einerseits war sie ihm erst vor zwei Tagen begegnet, andererseits hatte sie irgendwie das Gefühl, ihn schon eine Ewigkeit zu kennen.
Er umfasste ihre Taille und zog sie an sich für den Hochzeitskuss, so nah, dass sie seine Wärme durch den Stoff ihres Kleides spüren konnte. Als sie das Gesicht anhob, um seinen Kuss entgegenzunehmen, hatte sie plötzlich Mühe zu atmen.
Er sah sie mit seinen grauen Augen eindringlich an, dann beugte er sich zu ihr und gab ihr einen Kuss, der kurz, fest und besitzergreifend war. Ein seltsames Gefühl
durchzuckte sie, und sie hielt sich benommen an seinen Schultern fest. Sie musste schlucken, sah ihn an und befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen. Sie schmeckten nach ihm.
Plötzlich flammte irgendetwas in seinen Augen auf. Er schlang den Arm fester um ihre Taille und legte die andere Hand in ihren Nacken, wobei er die Finger in ihren Locken vergrub. Langsam, ganz langsam beugte er sich wieder zu ihr und fand ihren Mund erneut, zu Anfang warm und werbend, doch dann so fordernd und verlangend, dass ihr schwindelig wurde und sie sich noch fester an seine Schultern klammern musste. Die Kirche verschwamm vor ihren Augen.
„Ich gratuliere, mes enfants !" Die Stimme schien von ganz weit her zu kommen. Der Pfarrer. Monsieur le Curé.
Das war das Zeichen für die anderen, nach vorn zu treten und ihnen ebenfalls zu gratulieren. Jedenfalls taten Marthe und Stevens das. Mac hielt sich zurück, und seine Miene hätte eher zu einer Beerdigung gepasst als zu einer Hochzeit.
Faiths Wangen glühten, und sie rang um ihre Fassung. Es gelang ihr, mit einigermaßen zusammenhängenden Worten auf die Glückwünsche einzugehen, aber sie hoffte nur, dass Nicholas seinen Arm nicht von ihrer Taille nahm. Sie war sich nicht sicher, ob sie ohne seinen Halt stehen, geschweige denn den langen Weg durch die Kirche nach draußen zurücklegen konnte.
Sie warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Er sah so ruhig und gelassen aus wie immer. Am liebsten hätte sie ihn dafür geschlagen. Wie konnte er sie - noch dazu in einer Kirche! - so küssen, dass sie ganz weiche Knie bekam, und dabei so völlig ungerührt wirken? Das war wirklich unmenschlich.
Nach der Trauung zogen sich alle in den Salon des Pfarrers zurück. Marthe hatte eine leichte Mahlzeit vorbereitet.
„Lassen Sie uns auf die Frischvermählten anstoßen!" Vater Anselm öffnete eine Flasche Wein und schenkte ein, danach reichte Marthe die Gläser weiter. Der Wein war rubinfarben und sonnengereift.
Sie stießen miteinander an, dann zog Marthe sich zurück, wahrscheinlich in die Küche. Bald kehrte sie jedoch wieder zurück und übergab Faith ein Päckchen.
„Was ist das?", fragte Faith verwirrt. Sie wollte das Päckchen schon auspacken, aber die alte Frau hielt sie davon ab.
„Nein, öffnen Sie es erst, wenn Sie allein sind", meinte sie schroff.
„Aber, Marthe, Sie haben mir bereits so viel geschenkt ..."
Marthe fegte ihren Einwand mit der Hand beiseite. „Pah! Das ist nicht so etwas Wertvolles wie das Spitzentuch meiner maman, nur ein alter Gegenstand, für den ich keine Verwendung mehr habe." Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht können Sie ihn ja gebrauchen."
Jetzt trat Vater Anselm zu Faith. „Ich habe ebenfalls ein kleines Geschenk für Sie, mein Kind." Strahlend reichte er Faith ein kleines, in rotes Leder gebundenes Buch. „Gedichte!", rief sie aus, als sie das Buch aufschlug. „Auf Englisch! Nein, da stehen ja
ein paar meiner Lieblingsgedichte drin! O, ich danke Ihnen, Vater Anselm, ich werde es immer in Ehren halten. Würden Sie mir bitte eine Widmung hineinschreiben?" Lächelnd nahm er das Buch wieder an sich und schrieb etwas auf das Deckblatt. Als er ihr den Band zurückgab, sagte er: „Wenn man in der Fremde ist, vermisst man mit am meisten den Genuss, etwas in seiner eigenen Sprache lesen zu können."
Faith presste das Buch an ihre Brust. „Wie recht Sie haben! Ich habe das Lesen sehr vermisst, seit ... ich von zu Hause fortgegangen bin."
„Aber, aber, Miss, an einem so glücklichen Tag dürfen Sie doch nicht weinen", meldete Stevens sich zu Wort. „Ich habe übrigens auch ein kleines Geschenk für Sie, Miss - nein, Mrs Blacklock, natürlich", korrigierte er sich verlegen schmunzelnd und reichte ihr ein dünnes, zylinderförmiges Päckchen.
„Aber warum schenken Sie mir alle ...?"
„Das ist natürlich ein Hochzeitsgeschenk, Miss - ich meine Mrs Blacklock."
„Ein Hochzeitsgeschenk."
Weitere Kostenlose Bücher