Ein Sturer Hund
Aber es war nicht anzunehmen, daß er das begreifen würde. Weshalb Moira Balcon einfach log. Nett.
Cheng blieb jedoch hartnäckig, verwies auf die beiden Polizisten, die in Zweiffelsknot hatten sterben müssen, und zwar ausgerechnet in jenem Zimmer, das man ihm, Cheng, ursprünglich zugewiesen hatte. Eine Verwechslung?
Moira Balcon schüttelte den Kopf. Sie habe es von Anfang an genau auf die zwei Männer abgesehen gehabt. In der irrigen Annahme, die beiden seien ihr auf die Spur gekommen.
»Ich mußte handeln«, sagte Moria Balcon. »Ich wollte kein Risiko eingehen. Bei Ihnen war das anders. Ich glaubte allen Ernstes, Sie wären ein stinknormaler Tourist. Und sicher kein Detektiv, obwohl Sie genau das behauptet haben. Wie konnte ich denn ahnen, daß Sie die Wahrheit sagen. Wer um alles in der Welt tut so was? Erst, als Sie mit Ihrem komischen Köter durch die Kirche marschierten und von Tilanders Bar sprachen, ist mir klargeworden, daß Sie nicht der unschuldige Aufschneider sind, für den ich Sie gehalten habe.«
Cheng begriff. Er dachte an die junge Frau, an die er sich im Gasthof Zum schönen Hofnarren wegen eines Zimmerwechsels gewandt hatte.
»Dann waren Sie es also doch. Sie waren … Anna Haug?«
»Der Name fiel mir gerade ein. Ich bin hin und wieder für eines der Zimmermädchen eingesprungen. Ohne, daß die Chefin des Hotels das durchschaut hätte. So wenig wie Dr. Callenbach und sein Personal. Ich finde es prinzipiell amüsant, mich zu kostümieren. Aber es erfüllt natürlich auch seinen Zweck.«
»Kostümieren? Ist das nicht ein bißchen untertrieben? In der Rolle der Anna Haug haben Sie ohne jeden Akzent gesprochen. Als ich Sie dann aber auf der Kirchenbank sah, da waren Sie ein anderer Mensch. Und damit meine ich nicht allein die Aussprache, nicht allein die blonden Haare. Selbst Ihre Augen waren verändert. Kälter und schärfer. Ich möchte sagen: beißender. Schöne Augen, aber gebißartig.«
»Ein jeder ist multipel«, erklärte Moira gelassen. »Und in meinem Fall gehört es auch noch zum Beruf. Agenten würden nicht weit kommen, so ganz ohne die Möglichkeiten eines Chamäleons. Ein Gesicht ist dasselbe wie ein leeres Blatt, auf das man täglich etwas zeichnet, was man für das Eigene ausgibt. Wer will und wer kann, verfügt eben über eine ganze Menge eigener und doch verschiedener Gesichter.«
»Als Anna Haug, da haben Sie mir gefallen.«
»Hören Sie auf.«
»Wirklich. Sogar für meinen kleinen Hund hatten Sie etwas übrig. Man hätte meinen können, Sie lieben Hunde. Reizend. Ihre Verkleidung war komplett.«
»Genauso gehört es sich auch«, sagte Moira Balcon.
Cheng erhob sich, und sie gingen weiter. Langsamer als zuvor. Eine Stufe nach der anderen, wie über die Tasten eines vertikalen Klaviers steigend. Das war nicht bloß ein weit hergeholtes Bild. Tatsächlich veränderte sich die Akustik. Die im Raum kreiselnden Töne, diese Tonfarben einer Küstenlandschaft gewannen nach unten hin an Gewicht und Fülle, wurden dunkler. Gut möglich, daß Markus Cheng nicht mehr ganz bei Sinnen war, daß die Anstrengung seinen Verstand trübte, als er sich jetzt im mittleren Abschnitt der Betonröhre befand. Er selbst fühlte jedoch eine große Nüchternheit in seinem Kopf, in seinem »netten« Kopf. Um so mehr erstaunte es ihn, als er zunächst kleine, dann größere Unregelmäßigkeiten in der bis dahin glatten Betonwand feststellte. Er hielt dies anfänglich für ein Resultat von Ausbesserungsarbeiten, der Risse wegen, die sich in der Frühzeit des Turms ergeben hatten. Dann aber bemerkte er irgendwelche Objekte, die in die Betonschicht eingearbeitet waren. Daß es sich dabei um Leichenteile handeln könnte, um jene »Stuttgarter Leichen«, die man lieber nicht auf einem der öffentlichen Friedhöfe hatte begraben wollen, war bloß ein ironischer Gedanke. Denn Cheng konnte jetzt gut erkennen, daß es sich um alte Radiogeräte handelte, die hier quasi einen Teil des Baumaterials bildeten. Passenderweise.
Zum Teil ragten sie mit der Hälfte ihres Kastenkörpers aus der Wand heraus, Empfänger aus den vierziger und fünfziger Jahren. Die meisten davon waren ausgeweidet, bestanden nur noch aus ihren Gehäusen. Allerdings waren sie nicht unbelebt. Keineswegs. Cheng registrierte die Bewegung im Inneren. Hundertfach. Auch vernahm er jetzt das hundertfache Gepfeife. Er sah die unzähligen Augen leuchten. Und dann erkannte er die ersten, die heraufgeflogen kamen, um in den Geräten zu landen:
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