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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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einen geradezu sechsten Sinn verfügen.
    Es war jedenfalls so, daß Cheng seine Augen rascher als jeder andere geschlossen hatte. Und zwar in einem winzigen Moment, bevor noch der blendende Lichtschein durch den Raum gedrungen war. Cheng hatte auf etwas reagiert, ehe es geschehen war. Und war nun auch so flink und entschlossen, die neben ihm stehende Moira Balcon am Arm zu packen und sie durch den aufsteigenden Qualm in Richtung auf den Stufenabgang zu zerren, über den die beiden hinabstolperten, wie vom Rauch angetrieben, und solcherart in die unterste Etage des Turmkorbes, die Sendestation, gelangten.
    Übrigens war der Abgang zwischen Küche und dem Funkbereich erst kurz zuvor geöffnet worden, um eine konzertierte Aktion der Eingreiftruppe zu ermöglichen. Das Konzertierte löste sich jedoch im Qualm weiterer Rauchbomben auf. Sowie im Durcheinander, das sich notgedrungen ergab, um so mehr, als sämtliche Zivilisten instinktiv nach oben drängten, hin zur Plattform. Nicht aber Cheng, der Moira Balcon hinter sich herzog. Doch handelte er nicht weniger instinktiv. Es trieb ihn nach unten, weg von den Leuten, hinein in den Betonschaft. Denn jeder der Polizisten, die hier herumirrten, der Köche, der Kellner, vielleicht sogar der Fernsehleute, konnte einer von denen sein, deren Aufgabe darin bestand, das Problem des Secret Service und des BND zu bereinigen.
    Es war einigem Glück zu verdanken, daß Cheng und Moira inmitten von Rauch und Gestank jene Tür erreichten, über der eine Leuchtschrift verwaschen schwebte und auf den Notausgang verwies. Keineswegs glücklich war jedoch der Umstand, daß diese Türe, ob nun aus Nachlässigkeit, Dummheit oder Kalkül, versperrt war. Cheng warf sich dagegen. Nicht aber, weil er dachte, die Tür aufbrechen zu können. Sondern vielmehr aus Erschöpfung und Verzweiflung. Er glitt die metallene Fläche abwärts und landete auf seinem Hosenboden. Moira Balcon hingegen stellte ihren Schminkkoffer ab, rieb sich kurz die vom Qualm tränenden Augen, öffnete dann den Behälter und holte jenes Skalpell heraus, mit dem sie Rosenblüts Hals nur leicht verletzt hatte. Aus dem Griff zog sie, gleich einer Antenne, einen dünnen, federnden Draht, den sie in das Schloß einführte und mit einer Fingerfertigkeit, die etwas von einem Flötenspiel besaß, die Tür öffnete. Ganz einfach. Als breche sie ein Sparschwein auf. Zauberhaft.
    Die Tür sprang auf, und sogleich waren Cheng und Balcon in das Innere der Betonsäule gelangt. Und damit in eine kalte, gute Luft. Zumindest besaß diese Luft eine erlösende Wirkung. Cheng schlug die Tür zu. Nur kurz husteten sich die beiden aus, dann stiegen sie die schraubenförmig gewundene Treppe abwärts. Es war ein enger Schacht, der in kurzen Abständen von Spots beleuchtet wurde. Hundertundsechsunddreißig Meter hatten Cheng und Balcon vor beziehungsweise unter sich. Sie meinten den Wind zu spüren, der sich um die Außenhaut der Röhre wickelte. Die Geräusche, die dabei entstanden, gaben einem das Gefühl, an einer Meeresküste zu sein. Derart, daß man das Salzige in der Luft zu schmecken glaubte.
    »Warten Sie!« rief Cheng. Er hatte sich auf einer Stufe niedergelassen. Der Schweiß stand wie ein wäßriger Vorhang in seinem Gesicht. Seine Knie zitterten. Sein Atem ging rasselnd. Er hielt seinen Arm in die Höhe, während er gleichzeitig seinen Kopf senkte, um damit zu sagen, daß er umkomme, wenn er nicht kurz pausieren würde.
    Moira Balcon, die sich einige Stufen unter ihm befand, stützte beide Hände auf den Schenkel ihres höherstehenden Beines auf und wartete. Sie wußte, daß es nicht an ihr lag, Cheng anzutreiben. Ohnehin war unklar, ob nicht auch am Fuße des Turms eine Gefahr lauerte. In die man also nicht unbedingt atemlos hineinrennen mußte.
    Nach einigen Sekunden, in denen Cheng in seiner Erschöpfung wie in einem Seil gehangen war, richtete er seinen Kopf wieder auf und wischte mit der Hand über seine Stirn. Der Schweiß spritzte zur Seite und bildete eine Spur auf der grauen Fläche der Betonwand. Cheng fragte: »Warum haben Sie mich am Leben gelassen? Warum durfte ich meinen Kopf behalten?«
    »Weil ich Ihren Kopf nett fand.«
    »Nett?«
    »Ja. Nett und … gerade. Die meisten Köpfe sind krumm. Man muß sie richten.«
    Aber das war natürlich gelogen. Für Moira Balcon war Chengs Kopf so krumm gewesen wie die meisten anderen. Allein der Umstand eines als mißlungen erachteten Porträts hatte Cheng vor seiner Enthauptung bewahrt.

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