Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Vorwort zu »Ein Tag im Jahr«
Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig aber, daß man es nicht ertappen kann. Es entwischt dem beobachtenden Auge, auch der fleißig notierenden Hand und hat sich am Ende – auch am Ende eines Lebensabschnitts – hinter unserem Rücken nach unserem geheimen Bedürfnis zusammengefügt: gehaltvoller, bedeutender, spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger. Es gibt zu erkennen, daß es mehr ist als die Summe der Augenblicke. Mehr auch als die Summe aller Tage. Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln diese Alltage sich in gelebte Zeit. In Schicksal, im besten oder schlimmsten Fall. Jedenfalls in einen Lebenslauf.
Der Aufruf der Moskauer Zeitung »Iswestija«, der 1960 an die Schriftsteller der Welt erging, hat mich sofort gereizt: Sie mögen einen Tag dieses Jahres, nämlich den 27. September, so genau wie möglich beschreiben. Das war eine Wiederaufnahme des Unternehmens »Ein Tag der Welt«, das Maxim Gorkij 1935 begonnen hatte, das nicht ohne Resonanz geblieben war, dann aber nicht weitergeführt wurde. – Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960.
So weit, so gut. Aber warum beschrieb ich dann auch den 27. September 1961? Und alle darauf folgenden 27. September, bis heute – dreiundvierzig Jahre lang, nun schon mehr als die Hälfte meines erwachsenen Lebens? Und kann damit nicht aufhören? – Nicht alle Gründe dafür sind mir bewußt, einige kann ich nennen: Als erstes meinen Horror vor dem Vergessen, das, wie ich beobachtet habe, besonders die von mir so geschätzten Alltage mit sich reißt. Wohin? Ins Vergessen eben. Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens: Immer wieder wurde (und werde) ich mit dieser unheimlichen Erscheinung konfrontiert. Gegen diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein wollte ich anschreiben: Ein Tag in einem jeden Jahr wenigstens sollte ein zuverlässiger Stützpfeiler für das Gedächtnis sein – pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten beschrieben, was heißt: dem Zufall überlassen und ausgeliefert. Was diese zufälligen Tage mir zutrieben, konnte und wollte ich nicht steuern; so stehen scheinbar belanglose Tage neben »interessanteren«, Banalem durfte ich nicht ausweichen, »Bedeutendes« nicht suchen oder gar inszenieren. Mit einer gewissen Spannung begann ich darauf zu warten, was dieser Tag des Jahres, wie ich ihn bald nannte, mir in dem laufenden Jahr bringen würde. Die Aufzeichnungen wurden zu einer manchmal genußvollen, manchmal lästigen Pflichtübung. Sie wurden auch zu einer Übung gegen Realitätsblindheit.
Als schwieriger erwies es sich schon, auf diese Weise Entwicklungen einzufangen. Alle diese einzelnen Tagesprotokolle können ja nicht beanspruchen, für die vierzig Jahre zu stehen, aus denen sie, inselhaft, herausgepickt wurden. Doch hoffte ich: Indem ich punktuell, in regelmäßigen Abständen, einen Befund erhob, mochte sich mit der Zeit eine Art Diagnose ergeben: Ausdruck meiner Lust, Verhältnisse, Menschen,in erster Linie aber mich selbst zu durchschauen. Ich notierte – oft am gleichen Tag beginnend, meistens noch bis in die nächsten Tage hinein –, was ich an jenem Tag erlebt, gedacht, gefühlt hatte, Erinnerungen, Assoziationen – aber auch die Zeitereignisse, die mich in Bann hielten, politische Vorgänge, die mich betrafen, den Zustand des Landes, in dem ich bis 1989 Anteil nehmend lebte, und – das war nicht vorhersehbar gewesen – die Phänomene des Zusammenbruchs der DDR und die des Übergangs in eine andere Gesellschaft, einen anderen Staat. Und natürlich spiegeln sich meine manchmal jäh, häufiger aber allmählich sich verändernden Einstellungen zu all diesen komplexen, komplizierten Vorgängen: Konflikthafte, angreifende Auseinandersetzungen. In diesem Sinne sind diese Aufzeichnungen mehr als nur Material, sie wurden – wenn auch keineswegs vollständig – auch ein Beleg für meine Entwicklung. Der Versuchung, frühere Fehlurteile, ungerechte Einschätzungen aus heutiger Sicht zu korrigieren, mußte ich widerstehen.
Diese Tagebuchblätter unterscheiden sich deutlich von meinem
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