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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verseucht. Und auch hier, denke ich, wird viel zu selten und dann nur von Experten gefragt: Warum?
    Warum ist es mir, genau sechzehn Tage ist es her, so vorgekommen, jene beiden Türme stürzten direkt in das leere Zentrum unserer Zivilisation, der dieser Angriff angeblich gegolten hat? Alle scheinen zu wissen, was unsere Zivilisation ist. Ich greife zu Wörterbüchern. »Bürgerlich« also nennt man seit dem 16. Jahrhundert auch »zivil«. Sieh an, das Wort »Zivilist« hat Goethe geschaffen. Und »Zivilisation« bringt man mit »Sittenverfeinerung«, »Gesittung« in Zusammenhang: »Die auf die Barbarei folgende Stufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft«. Griechische Philosophie also, die monotheistischen Religionen, der Vernunftglaube der Aufklärung … Und wenn sie alle unter dem »Terror der Ökonomie« ihre Wirkungskraft im Abendland verloren hätten und nur noch als Schimären in uns weiterlebten? Und haben nicht immer mehr Menschen gespürt, daß diese unsere Zivilisation ausgehöhlt ist? Haben sie nicht immer stärker das Bedürfnis gehabt, darüber miteinander zu reden? Kam nicht immer häufiger der Satz: So kann es nicht weitergehen? Und konnten nicht dieFilm- und Fernsehproduzenten am meisten Geld verdienen mit Filmen, in denen irdische und außerirdische Monster diese angeblich so hoch geschätzte Zivilisation in – bis dahin – unvorstellbare Katastrophen trieben?
    Aufhören, aufhören! befehle ich mir. Mich dem Alltagskram zuwenden. Will der Verlag die Entwürfe für den neuen Buchumschlag sehen? Er will. Ein paar Sätze am Telefon hin und her – ja, sie beurteilen »die Lage« wohl ähnlich. Nein, die richtige Fröhlichkeit kommt auch bei ihnen nicht auf. Ich mache also den Brief nach München fertig mit den drei Varianten des Umschlags für das neue Buch.
    Und da ich nun einmal bei der Post bin, schreibe ich gleich noch den Brief an Professor F., den ich lange vor mir hergeschoben habe und in dem ich ihm die näheren Umstände des Todes von Adolf Dresen schildere, da er ja auch dessen Arzt eine Zeitlang gewesen ist. Zu viele Freunde sterben in diesem Jahr, als entziehe eine unbekannte negative Kraft immer mehr Menschen jenen kleinen Überschuß an Energie, den man nötig hat, um sich am Leben zu halten. Und gerade ihn, Dresen, hätten wir jetzt gebraucht, am meisten seine Fähigkeit zur gnadenlosen Analyse. Er hätte kein Pardon gegeben. Er hätte genau begründet, warum er auch gegen diesen Krieg gewesen wäre.
    Ein erfreulicher Brief ist zu beantworten. Eine Deutsch-Professorin aus Nürnberg bittet um einen Beitrag für eine Anthologie, in der sie Äußerungen unterschiedlicher Menschen zu einer Zeile aus Pablo Nerudas »Buch der Fragen« versammeln will: »Wer schrie vor Freude, als das Blau geboren wurde?« – Ich freue mich darauf, diesen Text zu schreiben, und ich weiß schon, wie er enden soll: Niemand anders als ein Außerirdischer muß es gewesen sein, der vor Freude schrie, als er zusah, wie die Erde, der blaue Planet, geboren wurde.
    Weiter. Geschäftliches aufarbeiten. Mit Maria Sommer über die Bedingungen, unter denen sie für mich einen Vertrag mit einem Theater aushandeln will. Wie immer sind ihre Vorstellungen klar, bestimmt und durchdacht, ich muß nur zustimmen, kann mich zurücklehnen und mich auf sie verlassen. Trotzdem: Immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit muß ich auf die Weiterverwertung früherer Arbeiten richten und auf Anfragen jüngerer Leute, die nichts mehr von den Personen wissen, die wir gekannt haben, fast nichts von den Hintergründen der Ereignisse, an denen wir beteiligt waren. Oft kommt mir die Geschichte wie ein Trichter vor, in den unsere Leben hineinstrudeln, auf Nimmerwiedersehen. Dinosauriergefühl.
    Ein Trompetensignal zwingt mich, aus dem Fenster zu sehen. Auf dem Nachbargrundstück soll nun doch ein Haus mit Eigentumswohnungen gebaut werden, der Boden wird dafür gerodet. Eine Megaphonstimme fordert die Anwohner auf, in ihren Häusern zu bleiben und die Fenster zu öffnen. Es werde eine Sprengung geben. Unser Hausmeister, der sich im Garten zu schaffen macht, ruft zu uns hoch, man habe Munition aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Gerd sagt, darauf habe er schon gewartet. Das Grundstück habe doch seit 1945 wild dagelegen, ein unersetzliches Biotop, da mußte doch Sprengstoff liegengeblieben sein. Wir öffnen also die Fenster, die Trompete des Sprengmeisters ertönt dreimal, ich setze mich vorsichtshalber auf den Stuhl im Flur, es gibt

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