Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Reaktion darauf in der Bevölkerung recht realistisch. Wie er überhaupt – wenn man die Prämisse gelten läßt, daß diese »Dienste« eben sein müßten und daß er seine Aufgabe speziell darin gesehen hat, zur Friedenssicherung beizutragen –, wie er dann überhaupt ziemlich »anständig« ist. Trotzdem befinde ich mich bei der Lektüre in ständigem Zwiespalt: Er will ja mit der Staatssicherheit im Innern und mit deren schäbigem Treiben nichts zu tun gehabt haben, und er war dauernd im Clinch mit Mielke, und doch: Kann er sich so davon abtrennen? Haben nicht auch seinen Weg Leichen gesäumt, zum Beispiel die der »verbrannten« und enttarnten Kundschafter?
Wie immer nehme ich abends eine Vivinox, an die ich wahrscheinlich schon zu sehr gewöhnt bin. Aber seit ich gelesen habe, welch einen Mix Thomas Mann sich jeden Abend eintrichtern mußte … Natürlich ziehen beim Einschlafen die Bilder vor meinem inneren Auge vorbei, die ich in den Jahren gesehen habe, die Wolf schildert. Daß auch wir erleichtert waren, weil eben auch wir sahen, wie die DDR auslief, und wir wollten ja, daß sie erhalten blieb, und wir hofften ja auch, daß nun ein anderer Geist einziehen würde. Warum haben wir nicht damals schon sehen können, daß es diesen »Geist« in diesem Apparat gar nicht gab – nicht geben konnte?
Das Licht ausmachen ist immer ein erleichternder Moment. Wieder ist ein Tag vorbei ohne persönliche Katastrophe. Wir leben noch. Wir leben. Immer nehme ich mir vor, jeden Tag, jede Stunde dieses Lebens ohne Vorbehalt anzunehmen, und immer unterfüttert der Gedanke an den Tod fast jede Stunde. Und das Wissen, wie schmal der Zeitraum wird, der mir, uns noch gegeben ist. Die Horrorvorstellung, allein leben zu müssen. Oft am Tag blicke ich auf Gerd, was er gerade macht, seinen Gesichtsausdruck, seine Haltung, wie er etwas sagt. Wie er, manchmal triumphierend, zum Abendbrot ein überraschendes Gericht hereinbringt. Ich horche, ob ich ihn atmen höre. Ich kann ihn ja nicht wecken, um ihm zu sagen, wie ich ihn liebe.
Dann gehe ich, wie jeden Abend, die Kinder und Enkel durch, kein besonderer Grund zur Sorge, glaube ich, auch bei Tinka und Martin nicht mehr. Honza ist mit seinem Buch, mit Lesungen, Veranstaltungen im Dauerstreß. Benjamin scheint die Tischlerlehre durchzuhalten, das wäre bewundernswert. Helene ist glücklich mit ihrem Till und hat, wie sie neulich sagte, »das Gröbste hinter sich«, nämlich eine wochenlange Doppelbelastung in ihrem Job. Anton verkündetemir am Telefon, er würde mit »noch jemandem« zur Thomas-Mann-Preis-Verleihung nach Lübeck kommen. Der »noch jemand« ist seine »Liebste« namens Lea. Ein neuer Zug an ihm, daß er das einfach so sagt. Ich freue mich. Und Jana und Frank schwammen ja bei ihrer Hochzeit buchstäblich im Glück, und jetzt sind sie auf Hochzeitsreise in Istanbul. Bleibt Klein-Nora, an die ich so häufig denke, obwohl ich sie so selten sehe. Ein wunderbares Kind, ein Wunder, wie jedes Kind. Annette, überschäumende Großmutter, berichtet immer von ihren Fortschritten, besonders jetzt beim Sprechen.
Ich wiederhole mein Mantra: Es geht mir gut. Es geht mir gut.
Ich schlafe ein und schlafe fast die ganze Nacht durch, ohne Träume, die sonst meistens sehr lebhaft und sehr seltsam sind.
Früh lese ich noch eine Weile in dem Buch von Markus Wolf – das heißt übrigens »Spionagechef im geheimen Krieg« und ist interessanterweise 1997 zuerst bei Random House auf englisch erschienen unter dem Titel »Man without a Face« und ist hier kaum bekannt –, ziehe wie immer das Aufstehen hinaus. Gerd liest in Claude Lanzmanns Autobiographie und findet, daß der sich zu sehr aufmandelt: Meine Güte, was ist das für ein Superman! – Er geht dann wie fast immer als erster ins Bad. Auf dem Bettrand sitzend sehe ich aus dem Fenster: Der Amalienpark ist noch ganz grün. Wenn man allerdings hoch in die Wipfel der Bäume schaut, sieht man, daß sie ganz schön gilb werden.
Die übliche Morgentoilette, duschen und so weiter. Seit einigen Wochen gehört ein Atemspray dazu, weil eine Lungenärztin den Verdacht geäußert hat, daß ich unterschwellig ein Asthma entwickle: Kurzatmig bin ich allerdings, mal mehr, mal weniger. Beim Anziehen brauche ich drei Cremes undSalben: Eine für den Rücken (an deren Wirkung ich nicht so recht glaube), eine für die Hornhaut, die sich neuerdings an meiner linken großen Zehe bildet, eine für die Narbe am Knie, die aber auf all die Salben auch
Weitere Kostenlose Bücher