Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
seit einer Woche plagt, einfach nicht aufhören will: Gelomyrtol, Locabiosol-Spray.
Im Radio (das wird ein Tag der Medien!) erinnern sie an den Kongreß für kulturelle Freiheit, der 1950 in Berlin stattfand, eine antikommunistische Veranstaltung, aus der unter anderem die Zeitschrift »Der Monat« hervorging. Alles, wie man heute weiß, von der CIA finanziert. Am Anfang hört man die Stimme von Arthur Koestler, der an das Wort aus dem Neuen Testament erinnert: Deine Rede sei Ja, ja, und nein, nein. Was darüber ist, ist vom Übel.
Annette ruft an. Sie war mit Honza in Weimar zu einer Veranstaltung, zu der ich ursprünglich auch kommen sollte, die unter dem Titel »Freiheit, die ich meine« lief. Sehr gut organisiert, sehr viele Autoren zu Diskussionen und Lesungen, zwei Tage lang, aber ganz wenig Publikum. Enttäuschend. – Annette ist auch ihren Infekt noch nicht ganz los, bei ihr setzt er sich immer in den Nasennebenhöhlen fest, aber sie hat in der nächsten Woche Urlaub und kann sich auskurieren. Sie muß zuviel arbeiten. Gerd rät ihr, einmal ein Vierteljahr nach Italien zu gehen. Das kann sie nicht, schon wegen Honzas Terminen für die Blutwäsche, aber einen Monat möchte sie sich schon mal vornehmen. – Ich kann von dem längeren Telefongespräch mit Benni erzählen, der jetzt zwei Wochen seiner Tischlerlehre hinter sich hat und sich dabei recht wohl fühlt. Wir sind sehr froh darüber.
Honza war in Köln bei seinem Verlag, der Lektor ist von seinem Buch begeistert, sie haben schon das Cover entwickelt, im Frühjahr wird es erscheinen.
Ich rufe in Hamburg an, Martin am Telefon, sie sind bei schönstem Wetter mit Seidels unterwegs in Hamburg, haben beim Fischmarkt Gemüse für Tinkas Geburtstagsessen morgen eingekauft; sie erwarten achtzehn Gäste. Sie scheinen begeisterte Hamburger zu werden.
Gerd kommt. Er ist mit meinem Manuskript beschäftigt, das mir noch einige Korrekturen abverlangen wird. Er stört sich an meiner Formulierung: »Der neue Glaube kommt listigerweise über den Kopf«. Und der alte? fragt er. Kam der nicht auch über den Kopf? Oder woher sonst? – Über Emotionen, sage ich. Und wenn über den Kopf, dann über einen anderen Teil des Kopfes. – Gerd ist skeptisch wegen der ganzen Lily-Handlung: Braucht man die? Was bringt die Sache mit dem Philosophen? – Er denkt immer noch, daß ich Walter Benjamin meine, aber das ist ja nicht (mehr) der Fall! Wenn ich da noch Eingriffe machen müßte, wäre das viel Arbeit, davor fürchte ich mich. Gerd meint, wir sollten das Manuskript noch einer unbefangenen Person zeigen, die die Ereignisse, auf denen es beruht, nicht kennt. Dafür bin ich auch.
Da ich auf Anordnung von Frau Dr. Etzold starke Entwässerungstabletten nehme, ursprünglich um einen Stau in der Lunge aufzulösen, muß ich andauernd im Eiltempo die Toilette aufsuchen.
Gerd zerkleinert das Fleisch für die Erbsensuppe, stellt mir die Rippchenknochen hin, die ich gerne abknabbere.
Es ist nach zwölf, wir gehen raus. Ich wie immer mit meinen zwei Stützen, die ich seit der Knie-Operation im Juni vorigen Jahres noch nicht ablegen konnte. Es deprimiert mich sehr – obwohl ich sicher selbst mit schuld bin: Zu wenig intensiv und ausdauernd trainiert. Heute kommt mir der Gedanke, ob ich mich einfach an diesen Zustand gewöhnen sollte. Andere müssen es ja auch.
Ein herrlicher Tag. Unglaublich intensive Farben. Ein Himmel in unwirklichem Blau. Die Bäume sind noch grün, einzelne Blätter, vergilbt, fallen schon ab. Die Kastanien allerdings von der Miniermotte schon kahl gefressen, die braunen Blätter liegen auf der Erde. Man sollte sie eingraben – aber wer macht das schon?
Im übrigen hat es drei Wochen nicht geregnet, alles ist dürr und trocken, die Wiese braungrau, die Schafe finden nur mühsam ein paar Hälmchen. Das hatten wir noch nicht. Hängt das auch mit dem Klimawandel zusammen, der laut neuesten Untersuchungen noch schneller kommt als bisher angenommen?
Ich gehe auf der holprigen Wiese bis zur Straße runter, das ist natürlich viel zu wenig, aber es gibt in der Nähe kaum eine glatte Strecke, auf der ich laufen könnte. Außerdem bin ich faul.
Ich setze mich auf einen Gartenstuhl in die Sonne und lese in der »Schweriner Volkszeitung«, die bei uns landet, weil Andrea zur Zeit nicht hier ist. Auf der ersten Seite dreißig Paßbild-Porträts von Menschen, die sagen, warum sie zur Wahl gehen. Unter ihnen Hermann Kant, der sich von der neuen Regierung nicht
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