Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)
Küche, das habe ich nicht verstanden. Mein Vater war nicht zu Hause, weil er bei der Arbeit war und die klebrige Flüssigkeit, die aus der zerbrochenen Flasche neben dem Gesicht meiner Mutter ausgelaufen ist, roch stark nach Alkohol. Wann immer es so streng roch, hatte meine Mutter gelacht und gesagt, es wäre unser Geheimnis. Aber das war es nie, weil jeder wusste, dass meine Mutter eine starke Trinkerin war. Ich hatte damals nur den Eindruck, sie war viel lustiger als die meisten Mütter, weil sie mit mir im Wohnzimmer sang und tanzte. Ich durfte länger aufbleiben als andere Kinder und musste auch nicht so viel lernen, weil sie es lustiger fand, mit mir über den Spielplatz zu springen und Cocktails zu mixen. Ich war keine zehn, da wußte ich schon, wie man den perfekten Martini mixte – allerdings hatte ich meine Hausaufgaben nicht gemacht.
Sie dann am Nikolausmorgen in der Küche zu finden, hat alles durcheinander gebracht. Egal wie doll ich sie auch geschüttelt habe, sie ist nicht aufgewacht und ich wußte nicht, ob ich erst die Sauerei aufwischen oder die Nachbarn anrufen sollte. Als diese dann nach meinem verstörten Auftritt endlich den Notarzt riefen und er meine Mutter wiederbelebte, saß ich auf der Treppe und starrte auf meine leeren Schuhe, die keine Schokolade oder andere Süßigkeiten enthielten.
«Ich kann mir nur vorstellen, wie es ...»
«Nein! Nein, das kannst du nicht!!»
Leas Lebensgeschichte ist sicherlich nicht leicht und niemand möchte wohl mit ihr tauschen. Aber sie kann sich nicht mal im Ansatz vorstellen, wie sich ein fünfjähriges Kind fühlt, wenn es die Mutter so vorfindet. Es war das erste Mal, dass ich sie so erlebt habe. Obwohl es danach noch zu so manchen Aussetzern kam, blieben mir diese nie so deutlich in Erinnerung, wie beim ersten Mal. Im folgenden Jahr hatte ich aus Angst vor einer Wiederholung der Szene all meine Schuhe versteckt. Irgendwie hat es sich so in mein Gedächtnis gebrannt. Wenn andere Schokolade bekommen, verliere ich vielleicht meine Mutter. Ich habe jede Nacht vom fünften auf den sechsten Dezember bei ihr im Bett geschlafen und darauf geachtet, ob sie noch atmet und ihr Herz auch ganz sicher noch schlägt. An jedem anderen Tag hätte es wieder passieren können, das ist mir mit der Zeit natürlich klar geworden. Aber damals war diese Angst an diesen bestimmten Tag getackert. Untrennbar. Für immer.
«Wenn ich es ändern könnte, ich würde es sofort tun.»
«Du kannst es aber nicht ändern!»
Das kann niemand. Und man kann es auch von niemanden verlangen.
«Wieso verstehst du nicht, dass diese Erinnerungen wehtun?»
«Das tue ich. Deswegen möchte ich dir jedes Jahr neue Erinnerungen schenken! Ich will, dass du siehst, dass es jetzt nicht mehr so sein muss!»
«Du verstehst es einfach nicht!»
«Nein! Du verstehst es nicht, Damian! Ja, es war schrecklich für dich als Kind. Ja, dieser Tag wird für dich nie ein Tag der Freude sein! Aber ich kann doch nicht zusehen, wie du daran jedes Jahr ein bisschen mehr kaputtgehst!»
«Ich bin doch schon längst kaputt.»
Das kann Lea weder ändern noch abstreiten. Ich kann andere Menschen täuschen, aber nicht sie. Es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie nicht widerspricht, sondern mich nur ansieht. Ich hasse es, vor ihr zu weinen, deswegen wische ich mir schnell mit dem Handrücken über die Augen. Diesmal nicht. Nicht schon wieder.
«Du solltest jetzt gehen.»
Dann rollt die erste Träne aus ihren Augen über ihre Wange und ich weiß, sie wird mir all das verzeihen, aber nicht mehr heute. Vermutlich nicht mal morgen. Hoffentlich aber noch dieses Jahr. Ohne ein weiteres Wort verlässt sie mein Zimmer und ich könnte ihr folgen. Wenn nur meine Beine mir gehorchen würden, und wenn ich nicht nur darauf warten würde, dass sie endlich geht, damit ich Teile meiner Wohnung auseinandernehmen kann, bevor ich erschöpft auf die Couch und hoffentlich in einen traumlosen Schlaf falle. Aber Lea wäre nicht Lea, wenn sie nicht mit ihrer Jacke und der Mütze wieder in der Tür auftauchen würde.
«Weißt du, Damian – eines Tages wirst du anderen Leuten schöne Erinnerungen an diesen Tag schenken. Ich kenne dich, Damian. So gut. Und du magst vieles sein, aber du bist nicht kaputt. Du bist der Teil von mir, der mich zusammenhält. Das solltest du nicht vergessen. Auch nicht heute.»
Ich hole Luft, um etwas zu antworten. Aber mir fallen keine Worte ein, die ich sagen kann. Mein Kopf ist wie leer gefegt … Und Lea
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