Ein Tag, zwei Leben (German Edition)
Nein.«
Er nickte, als wäre damit alles beantwortet. Was natürlich nicht stimmte.
» Dann beantworte jetzt meine Frage«, sagte er.
Die Worte kamen mir aus dem Mund, noch bevor ich es wusste. » Ich zähle die Sekunden, wenn er mich küsst. Immer, abgesehen von einem Mal … ich bin nie besonders erfolgreich über zehn Sekunden hinausgekommen.« Ich blickte auf. Er sah mich direkt an.
» Warum bist du dann mit ihm zusammen, wenn er dir dieses Gefühl gibt?«
» Weil er … Dex ist. Und alles, was ich je in dieser Welt wollte, war, seine Freundin zu sein. Er passt perfekt zu mir.«
» Klingt ja ideal«, sagte er trocken.
Meine Augen wurden schmal. » Das ist er auch.«
Ethan ließ sich nicht beirren. » Was ist dieses eine Mal passiert?«
» Wie bitte?«, fragte ich.
» Als du aufgehört hast zu zählen?«
» Oh, ich habe an jemand … an etwas anderes gedacht.«
Ethans Zähne spielten wieder mit seiner Unterlippe und mein Inneres machte einen Satz. Ich wusste, was er gleich fragen würde, kannte die nächste, offensichtliche Frage. Was würde er sagen, wenn ich ihm erzählte, dass ich an ihn gedacht hatte? Gäbe es eine Chance, dass …? Doch dann fiel mir der Plan wieder ein. Alles, worauf ich hingearbeitet hatte: Dex, Abschlussabend, meine Zukunft in Wellesley. Ich redete rasch weiter, bevor Ethan etwas sagen konnte.
» Dex tut mir gut. Er … er ist meine Zukunft. Nach der Abschlussnacht wird alles leichter für ihn – und für mich.«
» Was meinst du damit?«, fragte er und lehnte sich zurück.
Ich zuckte mit den Achseln. » Wir … wir haben Pläne«, sagte ich unbehaglich.
Ethan presste den Kiefer zusammen und ich verfluchte mein loses Mundwerk. Er wusste genau, was ich meinte.
» Oh. Klar. Klingt zauberhaft.« Er schaute auf die Uhr. » Wir sollten jetzt gehen.«
Ernüchtert nickte ich und folgte ihm aus der Bar. Schweigend liefen wir nebeneinanderher, bis Ethan einen Block von der Klinik entfernt stehen blieb und die Hände auf die Knie stützte.
» Alles in Ordnung?«, fragte ich.
» Nur Kopfschmerzen.« Er stieß sich von der Wand ab. » Gehen wir.«
Schweigend gingen wir weiter, aber ich bemerkte, dass unser Tempo jetzt erheblich langsamer war.
Als wir an meinem offenen Fenster anlangten, half Ethan mir hinein; er folgte mir und schloss das Sicherheitsgitter hinter sich ab.
» Gute Nacht, Sabine«, sagte er schnell. Dann ging er, ohne sich umzusehen, zur Tür.
» Gute Nacht, Ethan«, erwiderte ich, aber er war schon weg.
21 – Roxbury, Mittwoch–Samstag
Was immer Ethan in seinen Bericht geschrieben hatte – ich stand wohl in seiner Schuld. Ich wurde zwar immer noch überallhin von Macie begleitet, aber die Zügel schienen sich gelockert zu haben. Bei Toilettenbesuchen bekam ich jetzt Privatsphäre und durfte die Tür abschließen, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, und ich durfte meine Mahlzeiten mit der » Allgemeinheit« einnehmen.
Allerdings währte meine Hoffnung, eine verwandte Seele zu finden – jemand, der mir Insider-Klatsch lieferte, geheime Tunnels zeigte oder mich in Dr. Levis Büro schmuggelte, um meine Akte zu suchen und zu zerstören –, nicht lang.
Zu meinen Tischgenossen beim Mittagessen gehörte eine ältere Frau, Daisy, mit bonbonrosa Lippenstift – der nicht nur auf ihren Lippen war. Ihr Mittagessen war ausschließlich flüssig, und das einzige Mal, dass sie sprach, erklärte sie mir, dass ein Schmetterling aus meinem Ohr schlüpfte. Ich nahm an, dass sie aus dem obersten Stock kam. Neben ihr saß ein übergewichtiger Kerl namens Gus, der ungefähr in meinem Alter war und nicht einmal lang genug von seinem Playstation Portable aufsah, um » Hallo« zu sagen. Wir waren uns schon auf den Fluren begegnet, deshalb wusste ich, dass er auf meiner Etage war. Ich beobachtete ihn eine Weile und fand es faszinierend, dass er sich Essen in den Mund schaufeln konnte, ohne je von seinem Spiel aufzuschauen.
Meine letzte Tischgenossin war ein schlankes Mädchen, Abigail, die jünger als ich war, höchstens fünfzehn. Sie anzusehen fand ich am schwierigsten. Etwas oder jemand hatte ihr alle Haare auf einer Seite des Kopfes ausgerissen, sodass nur noch nässendes Fleisch zu sehen war. Als sie ein paar wenige, bemessene Bissen aß, konnte ich ähnliche Wunden an ihrem Arm sehen, als wäre dort buchstäblich die Haut abgeschabt worden. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass sich Abigail ihre Wunden selbst zugefügt hatte. Kein Wunder, dass Ethan so wütend
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