Ein Tag, zwei Leben
Erinnerung weiterleben würde. War ich seine einzige Zeugin?
Ethan hatte leben wollen. Er hatte alles getan, was er konnte, um hierzubleiben, und als er scheiterte, hatte er seine ganze Hoffnung, sein ganzes Leben in meine Hände gelegt.
Ich hasste ihn so sehr.
Ich liebte ihn noch mehr.
Ich verstand jetzt, weshalb ihm der Gedanke an meine zwei Leben so gefallen hatte, der Gedanke, dass wir weiterlebten. Ich tat es. Er hatte mehr gewollt und aus seiner Sicht … hatte ich das. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, mehr Tränen flossen. Kein Wunder, dass ich ihn so frustriert hatte. Keine Ahnung, wie er mich ertragen – und sich sogar in mich verlieben konnte. Ich sah ihn vor mir, wie er die Tabletten in meiner Hand ansah und mir sagte, dass ich eine verdammte Närrin sei – und schlimmer noch, dass ich ihn zu meinem Mittäter machte.
Ethan war der Überzeugung, dass ich nicht wissen konnte, was für eine Zukunft das Leben für mich bereithielt. Ich hatte ihm versprechen müssen, über meine Entscheidung nachzudenken – nicht nur in Betracht zu ziehen, wie es wäre, nur ein Leben zu haben, sondern auch das, was ich verpassen würde, wenn ich die Roxbury-Welt hinter mir ließe. Ich nahm die Tabletten und stopfte sie zurück in die Schachtel, wobei ich ihn einerseits verfluchte, andererseits mehr vermisste denn je zuvor. Er hatte recht.
» Ethan«, schluchzte ich. » Gott, ich will dich zurückhaben.«
Diese Welt, diesen Schmerz zu verlassen, wäre einfach – aber er würde mich in mein anderes Leben begleiten, und was würde an seine Stelle treten? Würde ich letztendlich glauben, dass dieses Leben ein Hirngespinst gewesen wäre? Dass Ethan nie existiert hätte? Ich würde der Wahrheit, die hinter meinen Erinnerungen steckte, nicht trauen können, aber dazu musste ich immer in der Lage sein. Mich an Ethan zu erinnern: sein wirres Haar, seine freundlichen, forschenden Augen, den Park, in dem wir zusammen gelegen, die Spaziergänge, die wir gemeinsam gemacht hatten, die Küsse. Wenn ich diese Welt verließe, wer würde sich dann an all das erinnern, was so wunderbar war an ihm, an uns?
Ich schlang die Arme um meine Taille und ließ mich in meinem Ozean des Kummers treiben. Ich musste ein Kissen auf mein Gesicht drücken, um meine gurgelnden Schreie zu dämpfen. Bei jedem Atemzug wurde es schlimmer.
Ich hatte gedacht, der Tod wäre die Antwort. Ich hatte geglaubt, dass er mir die Welt geben würde, die ich wollte und die ich brauchte.
Das Schlimmste daran war …
Ich hatte recht gehabt.
Nur dass es nicht mein Tod war.
Ethan hatte gesagt, das Leben passiere, während man damit beschäftigt sei, andere Pläne zu machen. Das stimmte. Ich war so besessen davon gewesen, etwas Kaputtes in Ordnung zu bringen, dass ich all die anderen Dinge, die um mich herum geschahen, gar nicht richtig wahrgenommen hatte – vor allem nicht seine Krankheit. Ich hatte gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, aber ich war so sehr in der Unmittelbarkeit meiner Welt gefangen gewesen, dass ich es ihm zu einfach gemacht hatte, sein Geheimnis zu wahren. Ich hatte gedacht, dass ich etwas Schreckliches durchmachte, und war böse auf ihn, weil er mich allein gelassen hatte. Dabei hatte er seinem eigenen Ende ins Auge gesehen, allein.
Dex war auch so ein Fall. Wenn ich die Augen aufgemacht hätte, wäre mir aufgefallen, wie besitzergreifend er geworden war. Ich wäre in Bezug auf meine Gefühle früher ehrlich gewesen und hätte mich von ihm distanziert. Vielleicht wäre dieser Abend dann nie geschehen …
Ich packte alle Tabletten wieder ein und schob sie unter die Matratze. Dann stand ich auf, brach aber einen Moment später schon wieder zusammen und lag herzzerreißend weinend auf dem Boden.
Irgendwann würde ich damit aufhören müssen, aber nicht jetzt. Irgendwann würde ich weitermachen – für mich, für ihn, für die kurze Erinnerung an uns beide, die mir so viel bedeutete –, doch hinter verschlossenen Türen würde ein Teil von mir für immer um ihn weinen.
Die Tage vergingen. Ich tat mein Bestes, um zu funktionieren, aber es verging keine Sekunde, in der ich nicht an ihn dachte und mich nach einer letzten Berührung sehnte. Oft war ich mit etwas beschäftigt und dachte, es ginge mir gut, und dann konnte ich wie aus dem Nichts plötzlich nicht mehr atmen und brach zusammen.
Zum ersten Mal in meinem Leben bestand der Schrecken der Nacht nicht aus dem Wechsel. Viel schrecklicher war die Tatsache, dass er fort war. Wie
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