Ein Tag, zwei Leben
lieb gewonnen in deinen ersten Tagen hier, und wahrscheinlich fragst du dich, warum er dich in der letzten Woche nicht besuchen gekommen ist, aber …«
Kopfschüttelnd schnitt ich ihm das Wort ab. » Was meinen Sie mit letzte Woch e ? Ich weiß, dass er gestern nicht da war, aber ich habe ihn am Montagabend gesehen und …« Ich verstummte.
Levi warf mir einen seltsamen Blick zu. » Wie oft genau hast du Ethan gesehen?«
» Ich … ich habe ihn jeden Abend gesehen, außer am Wochenende. Warum?« Ich hatte ein schreckliches Gefühl und ein Blick in Levis Gesicht verringerte meine Ängste auch nicht gerade.
Er ließ den Kopf hängen und beugte sich über seine Knie. » Er hat sich offenbar viel aus dir gemacht.«
» Was …? Was meinen sie mit: er hat sich viel aus mir gemacht?« Ich sah ihn eindringlich an. » Wo ist er? Warum hat er gestern Abend nicht gearbeitet? Ist er gefeuert worden?«
Oh, mein Gott, wenn sie ihn gefeuert hatten – wie konnte ich ihn dann je wiedersehen?
Levi seufzte. » Natürlich hat ihn niemand gefeuert. Sabine, hat Ethan je erwähnt, dass er hier in der Klinik wohnte?«
Ich schüttelte den Kopf. » Nein. Warum sollte er hier wohnen?«
» Er wohnte auf einem der anderen Stockwerke, damit er beobachtet werden konnte. Ethan war krank.«
» Was …? Er hat mir erzählt, dass er oft Kopfschmerzen bekommt. Ist das deshalb so?«
» Es waren keine Kopfschmerzen, Sabine. Ethan ging es sehr schlecht. Ehrlich gesagt dachte ich, er hätte dir davon erzählt. Er hatte das Hodgkin-Lymphom, im vierten Stadium. Er hat alles versucht: Bestrahlung, Chemotherapie. Doch als die Knochenmarktransplantation scheiterte, wurde eine Behandlung … unmöglich. Er bestand darauf, dass er weiterhin arbeitete und wir … und ich ihn arbeiten lasse, weil er glaubte, dass das gut für ihn war. Im Gegenzug willigte er ein, oben zu wohnen, anstatt allein in seiner Wohnung, sodass wir ihn wenigstens beobachten und versuchen konnten, die Dinge so angenehm wie möglich für ihn zu gestalten. Letzte Woche … ist es schlimmer geworden und er hat Anweisung bekommen, sich auszuruhen. Außerdem sollte er aufhören zu arbeiten. Niemand hat gewusst, dass er sich nach hier unten geschlichen hat, um dich zu besuchen.«
Am liebsten hätte ich widersprochen, hätte erklärt, dass er hatte da sein sollen, dass er ganz normal gearbeitet hatte. Aber mir fiel kein einziger Mensch ein, der uns zusammen gesehen hatte, abgesehen von diesen ersten paar Tagen.
Das war sein Geheimnis.
Ich konnte sehen, wie meine Hände zitterten, aber ich spürte sie nicht. Ich konnte gar nichts fühlen. Ich musste zu ihm.
» Wo ist er? Ich muss ihn sehen!« Es schnürte mir die Kehle zu bei meinen Worten. Denise fiel neben mir auf die Knie und umklammerte meine Hände.
» Es tut mir leid, Sabine. Der Krebs hat sich bis in seine Knochen und seine Lunge ausgebreitet. Ethan ist Montagnacht in seinem Bett von uns gegangen. Die Ärzte sagen, er sei bemerkenswert friedlich eingeschlafen, keine Anzeichen für Schmerzen. Sie sagen, sein Körper hätte länger durchgehalten, als irgendjemand erwartet hätte, länger, als irgendjemand für möglich gehalten hätte, aber am Ende hätte er einfach abgeschaltet.« Ich beobachtete, wie Tränen über Levis Gesicht liefen. Denise weinte auch.
Ich konnte nicht atmen.
Alle seine Worte kamen mir wieder in den Sinn. Alle Dinge, die ich zu blind war zu sehen. Zu selbstsüchtig.
Nicht ich.
Mir gefällt der Gedanke, dass es da noch mehr gibt, dass das Leben weitergeht.
Es gibt Dinge, die ich dir sagen will, Dinge, die du wissen musst.
Ich war mir so sicher, dass ich das nie erleben würde
Gott vergebe mir, aber … ich liebe dich.
Nicht ich.
Mir war nicht bewusst, dass ich diejenige war, die dieses schreckliche klagende Geräusch von sich gegeben hatte, während ich um mich schlug. Ich fühlte mich so entfernt von allem – als würde ich aus einer fernen Hölle alles beobachten, was um mich herum passierte, während mein Herz in tausend Stücke zerbrach, die man nicht mehr zusammenfügen konnte. Aber das war ich , und die Nadeln kamen und gingen. Schließlich hörte das Schreien auf und meine Augen wurden gezwungen, sich zu schließen; zwei Worte wiederholten sich immer und immer wieder in meinem gequälten Kopf.
Nicht er.
Nicht er.
Nicht er.
29
Plötzlich lag ich wach in meinem Krankenhausbett und hielt Ryans Hand. Fragend starrte er mich an.
» Sabine? Ist alles okay? Dein Gesicht … Du hast so
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