Ein toter Lehrer / Roman
Hosenbein leicht ab und kratzte an einem nicht vorhandenen Fleckchen. »Du hast getan, was wir alle tun müssen, Lucia. In jeder Lebenslage. Wenn wir in eine Zwickmühle geraten, müssen wir uns alle Anhaltspunkte vor Augen führen und ein Urteil fällen. Und du hast dich nicht getäuscht, denn ich vertraue deinem Urteil. Vielleicht nicht unbedingt in Sachen Literatur, aber im Allgemeinen schon.«
Lucia tat Philips Humorversuch mit einer Handbewegung ab. »Das solltest du besser nicht«, entgegnete sie. Sie ging weiter auf und ab.
»Lucia, ich kenne dich. Du zweifelst jetzt bloß an dir, weil das einfacher ist, als die Tatsache zu ignorieren, dass du recht hattest.«
»Du kennst mich doch gar nicht, Philip. Eigentlich bist du Davids Freund, nicht meiner. Wie oft haben wir uns jetzt getroffen – zwei Mal in sechs Monaten?«
»Immerhin doppelt so oft, wie ich mich mit David getroffen habe. Außerdem war er ein Kollege. Ein Freund wurde er aus Gewohnheit. Er wurde ein Freund, weil wir beide Freunde wurden.«
Wieder schüttelte Lucia den Kopf. »Du weißt doch gar nicht, was ich denke. Und du willst es auch nicht wissen, du willst nicht wissen, warum ich getan habe, was ich getan habe.«
»Dann erzähl es mir«, entgegnete Philip. »Erzähl mir, warum du deiner Meinung nach getan hast, was du getan hast.«
Lucia blieb stehen. Sie biss die Zähne zusammen und erwiderte Philips Blick.
»Erzähl es mir«, sagte Philip noch einmal.
»Na schön«, begann Lucia. »Wenn du es wirklich wissen willst: Er tut mir leid. Ich habe Mitleid mit dem Mann, der drei Kinder umgebracht hat. Ich kann mich in seine Situation hineinversetzen und mir vorstellen, zu tun, was er getan hat.«
»Unsinn«, sagte Philip, ohne eine Sekunde zu zögern.
»Ich habe es dir ja gesagt.« Lucia ging wieder auf und ab.
»Er tut dir leid. Gut, ich kann zwar nicht sagen, dass es mir genauso ginge, aber ich kann es dir nachfühlen. Das ist aber auch alles. Da hört es auf. Du könntest niemals tun, was er getan hat. Niemand von uns könnte das. Ein Mensch unter hundert Millionen wäre dazu vielleicht imstande.« Philip legte Lucia die Hand auf die Schulter, so dass sie stehen bleiben musste. »Lucia, hör mir zu. Es ist nicht das Mitleid, das in diesem Fall dein Urteil lenkt. Wenn ich dich auch nur ein klein wenig kenne, dann hast du deine Entscheidung trotz deiner Gefühle getroffen, nicht wegen deiner Gefühle. Du warst im Recht, und dein Chef ist im Unrecht. In moralischer Hinsicht. Du hattest recht.«
»Er wurde sitzengelassen, Philip. Die Frau, die er liebte, hat ihn abserviert und ist ausgerechnet mit dem Kerl ins Bett gegangen, den er mehr als jeden anderen verachtet hat. Da hast du das Motiv. Und davon hatte ich vorher kein Wort gesagt, oder?«
»Ein Detail«, erwiderte Philip. »Mehr nicht. Dieser Mann, warum hat Szajkowski ihn denn verachtet? Weil er ihn gequält hat, habe ich recht? Und dann seine Affäre mit dieser Frau. Wer sagt denn, dass das nicht als Teil derselben Folter gedacht war?«
Lucia setzte sich wieder in Bewegung, drei Schritte hin, drei Schritte her. »Szajkowskis Schwester«, sagte sie. »Sie hat mir erzählt, wie grausam Samuel sein konnte. Sie sagt, er wäre selbst ein Tyrann gewesen.«
»Geschwisterrivalität«, konterte Philip. »Nachteilig, unbegründet und daher nicht statthaft. Und wahrscheinlich auch belanglos, denn alle Brüder streiten mit ihren Schwestern. Bitte, Lucia. Kannst du bitte mal stehen bleiben, nur für einen Moment?«
Lucia tat ihm den Gefallen. Sie ließ zu, dass Philip ihre Hände nahm. »Sarah Kingsley«, sagte sie. »Das Mädchen, das gestorben ist. Ich habe mit ihrem Vater gesprochen. Er sprach von Momenten, in denen die Wut mit ihm durchgeht. Von Schmerz, der in Zorn umschlägt. Darin finde ich mich wieder, Philip. So fühle ich mich.«
»Dieser Lehrer wurde schikaniert, Lucia. Er wurde schikaniert, und die Schule wusste davon, ohne etwas zu unternehmen. Das war fahrlässig. Als Arbeitgeber – als Organisation, die für das Wohl ihrer Belegschaft verantwortlich ist – hat die Schule fahrlässig gehandelt. Das ist eine Tatsache.«
»Aber Philip, hast du nicht gesagt, ich wäre auf dem Holzweg? Hast du mir nicht geraten, die Finger von dem Fall zu lassen?«
»Ja, das habe ich dir geraten. Aber ich habe nie gesagt, dass du auf dem Holzweg bist.«
»Dann müsstest du dich jetzt freuen. Mir unter die Nase reiben, dass du es mir ja gesagt hast. Du kannst dich an dem Gedanken ergötzen,
Weitere Kostenlose Bücher