Ein unmoralischer Handel
Stiefgeschwister in irgendeiner Weise mit diesem Thema näher vertraut zu machen.
Zumindest war sie dieses Mal erwachsener, erfahrener und somit besser gerüstet, der Herausforderung zu begegnen. Beim ersten Mal …
Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Nachmittag vor elf Jahren, als das Schicksal sie unmittelbar vor ihrem Gesellschaftsdebüt gezwungen hatte, innezuhalten, tief Luft zu holen und ihrem Leben eine komplett andere Wende zu geben. Seit jenem Tag hatte sie die Bürde, welche die Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten der Familie bedeutete, getragen, hatte unablässig dafür gearbeitet, das Vermögen der Familie wieder zu mehren und nach außen hin stets den Anschein von Wohlstand aufrechtzuerhalten. Sie hatte darauf bestanden, dass die Jungen nach Eton gingen und später nach Oxford; Charlie würde zum Wintersemester im September dort eintreten. Sie hatte geknausert und gespart, um Mary und Alice ihr Debüt in London zu ermöglichen und ausreichend Mittel zur Verfügung zu haben, um sie auch standesgemäß einzukleiden.
Der ganze Haushalt sah dem in wenigen Tagen bevorstehenden Umzug in die Stadt freudig entgegen. Sie selbst hatte sich bereits darauf gefreut, die Früchte ihres Erfolgs zu ernten, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen zu haben, wenn ihre Stiefschwestern dem ton, der feinen Gesellschaft, ihre Aufwartung machten.
Immer wieder hatte Alathea lange in diesem Raum gesessen, vor sich hin gestarrt, nachgedacht, Pläne geschmiedet - und sie wieder verworfen. Dieses Mal jedoch würde Sparsamkeit allein nicht ausreichen - eine solche Summe, wie in der Schuldverschreibung festgelegt, war selbst unter den allergrößten Einschränkungen nicht aufzubringen. Sie drehte sich um und zog die linke Schreibtischschublade auf, nahm das Dokument erneut zur Hand, überflog es ein weiteres Mal und durchdachte alles noch einmal sorgfältig. Sie erwog die überaus nahe liegende Möglichkeit, dass hinter der Central East Africa Gold Company ein groß angelegter Betrug stand.
Die Gesellschaft machte durchaus den Eindruck - kein seriöses Unternehmen hätte ihren offenkundig in geschäftlichen Angelegenheiten vollkommen ahnungslosen Vater dazu verleitet, eine derart gewaltige Summe für ein so unsicheres Geschäft zur Verfügung zu stellen - jedenfalls ganz sicher nicht, ohne vorher diskret zu überprüfen, ob er seinen Verpflichtungen überhaupt würde nachkommen können. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass weder sie noch Wiggs irgendeinen Fehler gemacht hatten - die Central East Africa Gold Company musste ein Schwindel sein.
Sie war nicht im Mindesten geneigt, all das, wofür sie gekämpft hatte, all die Opfer, die sie in den letzten elf Jahren gebracht hatte - das gesamte Vermögen ihrer Familie -, kampflos preiszugeben und es einer Bande heimtückischer Schurken zu überlassen.
Es musste einen Ausweg geben - und es war an ihr, ihn zu finden.
1
London, 6. Mai 1820
N ebelschwaden umwehten Gabriel Cynsters Schultern, als er durch den Säulengang vor der St.-Georges-Kirche am Hanover Square schritt. Die Luft war kühl, die Dunkelheit unter den Säulen wurde nur hier und da vom schwachen Schein der Straßenlaternen durchbrochen.
Es war drei Uhr; das elegante London schlief. Die Kutschen, welche die letzten Nachtschwärmer noch nach Hause gebracht hatten, rumpelten längst nicht mehr durch die Straßen - eine tiefe, aber wachsame Stille hatte sich über die Stadt gelegt.
Als er das Ende des Säulengangs erreicht hatte, drehte Gabriel sich um. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er den steinernen Tunnel ab, den die Kirche und die schmalen Säulen, die ihre Fassade stützten, bildeten. Der hin- und herwabernde Nebel beeinträchtigte die Sicht. Genau an demselben Platz hatte er vor einer Woche gestanden und Demon, einem seiner Cousins, nachgesehen, als dieser mit seiner frisch angetrauten Braut davonfuhr. Plötzlich war ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen - eine Vorahnung, ein Vorgefühl, irgendetwas in der Art.
Um drei Uhr früh im Portikus von St. George - so hatte es auf dem Billett gestanden. Fast hätte er es schon weggeworfen, ein schlechter Scherz, ganz gewiss, doch etwas an den Zeilen hatte ihn gereizt, hatte etwas in ihm geweckt, das mehr war als reine Neugierde. Die Nachricht war aus purer Verzweiflung an ihn gesandt worden, auch wenn er bei Licht betrachtet nicht hätte sagen können, weshalb er sich dessen so sicher war. Die
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