Ein unsittliches Angebot (German Edition)
sich vorzustellen – nicht, dass sie die Absicht gehabt hätte, das zu tun.
Seine Haltung war der Inbegriff von Trägheit. Die langen Beine hatte er wie ein Grashüpfer gefaltet, um sie in die Bank zu quetschen. Seine Hände ruhten schlaff auf dem Gesangbuch, das aufgeschlagen auf seinem Schoß lag. Garantiert war er einer von den Menschen, die nur in die Kirche gingen, um andere mit ihren Gesangskünsten zu beglücken.
Jetzt jedoch beglückte er sie mit etwas ganz anderem: einem Schnarchen, tief und verhalten wie das Summen eines verirrten Insekts, aber doch unverkennbar ein Schnarchen. Und dann noch eins, im gleichen Tonfall wie das erste.
Also wirklich. Wozu kam er überhaupt in die Kirche? Sie drehte sich wieder nach vorn. Mr und Mrs James Russell konnten sich gern mit ihm herumschlagen. Sie selbst musste sich mit bedeutsameren Dingen befassen. Wie zum Beispiel der Predigt. Oder dem Zustand ihres Gebetbuchs, das sogar im Sommer moderig roch. Alle Gebetbücher in dieser Kirche rochen so, und dieses wies zudem dunkle Schimmelflecken und von Feuchtigkeit gewellte Seiten auf, als sie es durchblätterte. Ein Jammer, dass sie nicht mehr dazu gekommen war, Mr Russell zu bitten, die Bücher auszutauschen –
Sie bekam eine Gänsehaut. Sie wurde beobachtet. Von rechts. In einer einzigen raschen Bewegung wandte sie den Kopf und blickte in dunkelblaue Augen. Augen von der Farbe des Ozeans. Der Fremde, soeben erwacht, hatte den Kopf gehoben und offenbarte sein Antlitz.
Er sah noch verschlafen aus. Dort, wo es auf seiner Schulter gelegen hatte, zeigte sein Gesicht eine Druckstelle. Eine Locke fiel ihm schräg in die Stirn. Seine Wangenknochen wirkten aristokratisch, seine Lippen voll, und er hatte Wimpern, die Martha noch sechs Bänke weiter hinten gesehen hätte.
Er blinzelte kurz und dann noch einmal. Ein unverhohlenes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, so als hätte er sie am anderen Ende eines Ballsaals erblickt und hoffte nun, mit ihr bekannt gemacht zu werden.
Nein. Schlimmer. Sie wandte sich ab; das Blut schoss ihr bereits in die Wangen. Frauen, die in seinem Bett erwachten, sahen dieses Lächeln. Schlaftrunken. Ein wenig überrascht, sie zu sehen. Gern bereit, mehr zu sehen, sobald es ihr beliebte.
Martha legte das Gebetbuch weg, verschränkte die Arme und verbarg sich so gut es ging vor seinem Blick. Die Luft, die ihren bloßen Nacken streifte, fühlte sich plötzlich an wie eine ungewollte Liebkosung. Mochte es nun August sein oder nicht, sie wünschte, sie hätte einen Schal dabei.
Ein weiterer Schauder lief ihr über den Rücken, doch sie starrte entschlossen geradeaus, selbst dann noch, als der Gottesdienst zu Ende war und die Reihen sich leerten. Sie war die Letzte, die die Kirche verließ und dem Pfarrer die Hand schüttelte, um ihm für seine erbauliche Predigt zu danken.
Mr Atkins sah genau so aus, wie ein Mann der Kirche aussehen sollte, von Nahem vielleicht sogar noch mehr als auf der Kanzel. Sein straffer Körperbau verlieh seiner schmucklosen schwarzen Soutane zusätzliche Würde, und weißes Papier und schwarze Kohle hätten völlig ausgereicht, ein getreues Abbild von ihm anzufertigen: pechrabenschwarze Augen, Haare und Brauen, deren natürliche Neigung seinen blassen, kantigen Zügen etwas Melancholisches gab.
»Ich finde, es ist ein sehr schöner Text«, erwiderte er auf ihr Kompliment hin, und ein leichter Anflug von Bosheit schlich sich in sein Lächeln. »Obwohl ich in Zukunft Mr Mirkwood zuliebe vielleicht etwas lebendigere Stellen auswählen sollte. Wenn er bei David und Goliath auch einschläft, muss es wohl an mir liegen.«
»Ist er ein Nachbar?« Über Mr Atkins’ Schulter hinweg konnte sie den Fremden sehen; er hatte bereits eine gute Viertelmeile in Richtung der Straße zurückgelegt. »Ich kenne ihn weder vom Sehen noch dem Namen nach.« Er bewegte sich mit federnder Leichtigkeit, die Hände in den Rocktaschen.
»Ihnen gehört das Anwesen östlich von Seton Park, aber wir sehen sie nicht oft. Seit Sie da sind gar nicht, glaube ich, und auch jetzt ist nur der junge Mr Mirkwood herübergekommen. Aber nun reden wir schon so lange, und ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht.« Der Tonfall des Pfarrers veränderte sich. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie schon so bald wieder ausgehen würden.«
Sein Blick würde eindringlich sein, wenn sie ihm in die Augen sehen würde. Er würde sie dazu ermuntern, sich ihm anzuvertrauen, völlig unverfänglich, wie
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