Tod auf dem Drahtseil (Roman) (German Edition)
Der Tod auf dem Drahtseil
Ann Murdoch
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© 2012 M.Schwekendiek
© 2012 Digitalausgabe AlfredBekker/CassiopeiaPress
Ein CassiopeiaPress E-Book.
Alle Rechte vorbehalten.
Www.AlfredBekker.de
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„Sei freundlich da oben, Pat, vergiss das Lächeln nicht“, rief Trainer Angus McNeill zum Trapez hinauf. „Und zähl mit, sobald Stuart anfängt zu schwingen. Du weißt, dass es auf Sekundenbruchteile ankommt.“
Pat Lionheart zog eine Grimasse und streckte Angus die Zunge heraus. „Das weiß ich doch“, rief sie hinunter. „Ich bin schließlich oft genug im Netz gelandet.“
„Und du wirst da auch wieder landen, wenn du nicht alles richtig machst“, konterte McNeill, doch seine Stimme klang versöhnlich und freundlich, als er die junge Artistin betrachtete.
Patricia Lionheart hatte hart gearbeitet, um als eine der wenigen Frauen in der Welt den dreieinhalbfachen Salto in der Luft zu schaffen. Nicht immer war es ohne Tränen und Verletzungen abgegangen, aber mittlerweile klappte der Sprung bei drei von vier Versuchen. Die Sechsundzwanzigjährige kämpfte zäh und verbissen um ihren Erfolg, wie fast alle, die vom Zirkus besessen waren. Und Angus McNeill hatte es nicht bereut, die junge Frau, über deren Herkunft man so gut wie nichts wusste, in die Truppe aufgenommen zu haben.
Die Truppe, das waren die „Flying Generations“ mit ihm, Angus McNeill, der lange Jahre selbst am Trapez gearbeitet hatte, seinem Sohn Stuart und dessen Frau Eve und wieder um deren Sohn Nicholas, der allerdings noch Anfänger war. Stuart war der Fänger, und er machte seine Sache seit Jahren wirklich gut. Und doch war jeder neue Akt auf dem Trapez eine Herausforderung und ein Abenteuer zugleich. Vor allem jetzt, da es endlich soweit kam, dass Pat ihren dreieinhalbfachen vor Publikum springen wollte. Denn dies hier war der letzte Tag ihres Aufenthaltes in Stirling, und noch in der Nacht nach der letzten Vorstellung würde der ganze Zirkus weiterfahren nach Dumbarton, kurz vor der Mündung des Flusses Clyde gelegen. Es war eine malerische, alte Stadt mit viel Geschichte und einer modernen Bevölkerung, die hoffentlich empfänglich sein würde für das Programm, das der First National Circus zu bieten hatte.
Der Name des Zirkus war natürlich frei erfunden und reichlich angeberisch, aber bisher hatte niemand Einspruch erhoben. Und so hatte Cedric O'Malley, der Direktor und Besitzer des Zirkus, bisher keine Veranlassung gehabt den Namen zu ändern, auch wenn er ziemlich hochtrabend klang.
Cedric kam jetzt in die Hauptmanege, wo die Flying Generations noch immer probten, und unwillkürlich hielt er den Atem an, als Pat zum dreieinhalbfachen Salto ansetzte. Hände klatschen gegeneinander, Talkum staubte auf, und ein unterdrückter Schrei kam von oben, als die junge Frau vom Fänger nicht richtig aufgefangen werden konnte. Dann ließ sich Pat ins das Netz fallen, wo sie gleich darauf ein wenig zur Ruhe kam. Schließlich rieb sie sich über die Schulter, wo sie augenscheinlich Schmerzen hatte. Trotzdem kam sie auf die übliche Art, mit einem Überschlag über die Netzkante, auf den Erdboden hinab.
„Das ging voll daneben“, klagte sie. „Ich habe ein Gefühl, als wäre meine Schulter aus dem Gelenk gerissen.“
Trotz der gespannten Aufmerksamkeit, die Cedric dem Sprung der jungen Frau geschenkt hatte, wirkte er ein wenig gehetzt. Der Zeitplan war eng.
„Ich gebe euch noch eine Viertelstunde“, sagte er zu Angus McNeill und schaute dann Pat aufmerksam an. „Bist du soweit in Ordnung? Kannst du heute Abend auftreten?“
„Natürlich kann ich“, schimpfte sie. „Das muss nur ein bisschen massiert werden, und ein wenig von dieser Salbe, die Colin zusammenmixt, muss drauf, dann wird das schon wieder.“
Der Blick von Angus war noch skeptisch, doch andererseits wusste er genauso gut wie Pat, dass sie sich mittlerweile zum Zugpferd der Flying Generations entwickelt hatte, und ein Auftritt ohne sie eigentlich gar nicht in Frage kam.
Cedric O’Malley, ein schlanker, älterer Mann undefinierbaren Alters, das irgendwo zwischen fünfzig und siebzig liegen mochte, griff Pat sanft unter das Kinn. „Du machst das schon, mein Kleines, ja?“, fragte er freundlich.
Sie nickte, sie war nicht wehleidig, und wegen einer Lappalie würde sie niemals eine Vorstellung schmeißen. Die Zirkusluft lag ihr im Blut, obwohl sie von Hause wirklich keine Verbindung zum Zirkus gehabt hatte. Aber irgendwann war der Tag gekommen, an
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