Ein unsittliches Angebot (German Edition)
an. »Aber wie dem auch sei, wir müssen die Erinnerung an die Fehltritte eines Mannes nicht auch noch dadurch am Leben erhalten, dass wir über sie reden oder ihnen überhaupt Beachtung schenken. Hoffen wir lieber darauf, dass der Aufenthalt hier in Sussex ihm zum Besten gereichen wird.« Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war, wenn er weiterhin den Gottesdienst verschlief.
Das Mädchen nahm einen Kamm und fuhr damit durch Marthas Haar. Dabei hielt es schuldbewusst den Blick gesenkt, doch sein Lächeln ließ annehmen, dass ihm Mr Mirkwood und dessen Übertretungen noch immer im Kopf herumspukten.
Zweifellos hätte man in zehn Monaten mehr tun können, um Sheridan ihren Hang zu Klatsch und Tratsch abzugewöhnen und ihr die Grundregeln des Anstands beizubringen. Doch Martha hatte Besseres zu tun, als dies nun zu bereuen. Vielleicht konnte sie sich diese Neigung sogar zunutze machen.
»Weißt du etwas über Mr Russells Bruder James? Sprechen die älteren Dienstboten über ihn?«
»Mr James Russell.« Ein Muskel in Sheridans Wange zuckte, ansonsten wurde ihre Miene mit einem Mal ausdruckslos. »Warum fragen Sie?«
»Er soll Seton Park erben, und ich habe vorher noch einige Angelegenheiten mit ihm zu besprechen.« Diesmal stockte der Kamm kurz in seiner Bewegung, doch Sheridans Miene verriet nichts. »Er war nicht bei der Hochzeit, und bei der Beerdigung auch nicht, also muss ich mich auf die Eindrücke anderer verlassen.« Drei, vier, fünf Sekunden verstrichen in Stille. »Du hast irgendetwas über ihn gehört, habe ich recht?«
»Die älteren Dienstboten haben über ihn gesprochen.« Das Mädchen blickte kurz auf, schlug die Augen aber sofort wieder nieder.
»Und was haben sie gesagt? Sag mir die Wahrheit.« Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was rief in diesem Mädchen, das so bereitwillig über Mr Mirkwoods Schande geplappert hatte, plötzlich eine solche Zurückhaltung hervor?
Sheridan schürzte die Lippen. Sie legte den Kopf schief und schaute unverwandt auf ihre Hände. Schließlich sagte sie: »Sie sagen, er hat hier als junger Mann zwei Dienstmädchen ruiniert.«
»Was?« Jetzt fröstelte Martha am ganzen Körper. »Wer sagt so etwas?«
»Mrs Kearney. Sie war damals das zweite Hausmädchen. Sie sagt, sie ist nur dank ihrer vielen Pockennarben im Gesicht vor ihm sicher gewesen.« Sheridan presste die Lippen zusammen.
»Sicher davor … in ein unsittliches Verhältnis gelockt zu werden, meinst du?« Oder vor etwas noch Schlimmerem?
»Mit Locken ist da nicht viel gewesen.« Wie riesige, unheilvolle Hagelkörner fielen die Worte, stockend und stoßweise, während Sheridan ihrer Herrin das Haar kämmte. »Er ist nachts in ihre Kammer gekommen und hat gedroht, sie zu entlassen, würden sie etwas sagen. Und dann sind die beiden trotzdem entlassen worden, wegen des Zustands, in dem sie sich befanden.«
»Wurde er denn nie zur Verantwortung gezogen?« Das hauchdünne Flüstern passte genau zu der Frau, die sie im Spiegel sah, bleich wie das weiße Leinenhemd, das sie trug. Und es war eine dumme Frage. Niemand zog solche Männer zur Verantwortung. Frauen konnten lediglich beten und auf Erbarmen hoffen, und ansonsten die Folgen mit Würde tragen.
Sheridan schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass er es nie auf mich abgesehen haben wird«, sagte sie nach einigen Augenblicken. »Aber für mich ist hier sowieso kein Platz mehr, wenn Sie fortgehen.« Sie legte den Kamm beiseite und begann, das Haar zu flechten. »Ich hatte gehofft, Sie würden bleiben. Das haben wir alle. Ich schätze, es wäre alles anders gekommen, wenn Sie mit einem Sohn gesegnet worden wären.«
»Ganz anders, allerdings.« Martha wandte errötend den Blick von ihrem Spiegelbild ab. »Doch wie wir seit einigen Tagen wissen, ist das völlig …« Sie hielt inne. Tief in ihrem Bauch wallte der Trotz schon wieder auf und verwirrte ihr die Worte.
Sie reckte das Kinn und erwiderte den Blick ihres Spiegelbilds; ihr Atem wurde hastig und flach. Daneben Sheridans Spiegelbild, das hübsche, frische Gesicht, dessen Augen bereits viel zu viel von der Welt gesehen hatten.
Frauen konnten lediglich auf Erbarmen hoffen. Das stimmte nicht. Frauen konnten mehr tun. Eine verzweifelte Frau konnte mehr tun.
Frauen konnten lediglich die Folgen mit Würde tragen. Nein. Eine Chance hatte sich ergeben. Eine Chance hatte sich ergeben, am Vormittag erst hatte sie ihr ins Gesicht geblickt.
Im Spiegel sah sie, wie ihre Schamesröte einem Ausdruck
Weitere Kostenlose Bücher