Ein unverbindliches Ja
geklauten H&M-Bluse erwischte. Nie zuvor hatte er jemals darauf geachtet, was ich anhabe. Ich hätte im blauen Müllsack vor ihm stehen können, er hätte es nicht bemerkt. Aber an diesem einen Morgen beim Frühstück fiel ihm sehr wohl mein Diebesgut auf.
»Wo hast du denn die Bluse her?«
»Von H&M«, antwortete ich lahm.
»Schick, was hat die gekostet?«
»Weiß ich nicht.« In dieser Antwort lag mein Fehler.
»Wieso weißt du das nicht? Ich denke, die ist neu, hast du sie geschenkt bekommen?«
»Nein.«
Nun hatte ich ein Problem, denn Lügen war in unserem Haushalt das schlimmste Vergehen überhaupt. So nahm ich allen Mut zusammen und blieb bei der Wahrheit. »Ich weiß nicht mehr, wie viel sie gekostet hat, weil ich sie nicht bezahlt habe.«
»Wie bitte?!? Was hast du da gerade gesagt?«
Mein Vater flippte aus. Sein Gesicht verfinsterte sich und seine Zornfalte auf der Stirn machte mir Angst. Was, wenn ihm jetzt die Hand ausrutschte? Also versuchte ich noch irgendwie die Kurve zu kriegen.
»Du hast schon verstanden, ich habe sie mitgehen lassen. Du predigst doch immer, man darf niemals lügen. Das hast du nun davon.«
»Ja, aber klauen darf man erst recht nicht.« Fassungslos sackte er in sich zusammen.
Genauso wie Harry gerade. Ein Déjà-vu. Obwohl er mit dieser Angelegenheit völlig überfordert ist, will er sie immer noch nicht auf sich beruhen lassen.
Auch mein Vater gab sich damals nicht sofort geschlagen. Er wollte der Sache auf den Grund gehen und dachte über die Höhe meines Taschengeldes nach. War es zu wenig? War das etwa der Grund meines Diebstahls? Andererseits konnte er es aber unmöglich nach diesem Vorfall erhöhen. Schade eigentlich …
Abgesehen von gestern Abend habe ich danach auch nie wieder etwas mitgehen lassen. Aber nicht weil mich mein Vater noch lange Zeit mit pädagogisch sinnvollen Maßnahmen nervte. Nein, der Grund war ein anderer. Das Trauma bekam ich schon davor, just in dem Moment, als ich mit meiner stibitzten Bluse den Ausgangsbereich passierte und plötzlich die Sirene der Alarmanlage schrill und eindringlich ertönte. Ein Moment, in dem ich mein ganzes Leben in Bruchteilen von Sekunden vor mir sah, mein Adrenalinspiegel schoss gen Himmel und das Security-Team kam angerannt. Dieser kurze Augenblick gefühlter Ewigkeit war wirklich unerträglich.
Doch dann beobachtete ich, wie sich die Männer den Jugendlichen neben mir schnappten. Gezielt stürmten sie auf ihn zu. Ich konnte es nicht fassen, er hatte tatsächlich ebenfalls gestohlen und ich war aus dem Schneider. Mich beachtete niemand, keiner traute einem so glattgekämmten Mädchen wie mir eine solche Tat zu.
Dieses kleine Detail verschwieg ich meinem Vater wohlweislich. Schließlich wusste ich um seine Herzprobleme. Dass es einfach nur im Reiz der Sache an sich lag, konnte er natürlich nicht verstehen. Auch Harry will das gerade gar nicht kapieren. »Klauen ist das Allerletzte, wie kannst du nur? Wenn das alle machen würden, hätte der arme DJ bald keine CDs mehr.«
Oje, wenn ich so darüber nachdenke, erschreckt es mich, wie sehr Harry meinem Vater in vielerlei Hinsicht ähnelt. Ein weiterer Grund, warum ich mich in dieser Beziehung so unwohl fühle. Meine Tagträume gehören eindeutig Hendrik. Er ist genau mein Kaliber, das spüre ich nur zu gut. Warum hat er so lange auf sich warten lassen? Ich tröste mich damit, dass die 48-h-Regel nur für das erste Telefonat nach dem Kennenlernen gilt, also würde er bald wieder was von sich hören lassen. Mein Handy, auf lautlos gestellt, ist bereit.
Nichts geschieht.
Endlos lange Tage des Wartens folgen. Es sieht leider danach aus, dass sein ›Hoffentlich bald!‹ aus der letzten SMS unerfüllt bleibt. Das wirkt nicht so, als könnte er es vor Sehnsucht nach mir kaum aushalten.
Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Es ist mir unerklärlich, warum ich ihn nicht erreichen kann. Sein Handy ist schon seit einer Woche ausgeschaltet und übers Festnetz habe ich auch keine Chance, sogar seinen Anrufbeantworter hat er deaktiviert. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen? Harry hingegen lässt mich kaum aus den Augen, das volle Kontrastprogramm, wie ein Geier über den Sterbenden wacht er über mich.
Am liebsten würde ich jetzt kiloweise Eis und Schokolade konsumieren und dabei ungestört mit Suse mein verkorkstes Liebesleben analysieren. Ob Harry etwas ahnt? Vielleicht ist ihm meine Unzufriedenheit in letzter Zeit aufgefallen? Ach, im Moment läuft einfach alles quer.
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