Ein unverschaemt charmanter Getleman
Fenster.
Auf der untersten Sprosse einer Leiter stand Alistair und schaute zu ihr hinauf.
„Was tust du da?“, fragte sie ihn.
Er legte den Zeigefinger an die Lippen und kletterte rasch die Leiter hoch. „Ich bin gekommen, um dich zu retten“, sagte er. „Ich werde dich auf meinem weißen Ross von hier fortbringen, wohin auch immer du wünschst. Oder vielmehr werde ich dich hinter ein Paar Graue setzen, denn ich musste mir schon wieder Ruperts Zweispänner borgen. Ich dachte mir, dass eine Kutsche uns die lange Flucht weitaus angenehmer machen würde.“ Noch während er sprach, erklomm er den Fenstersims und sprang ins Zimmer. „Dir sind Bedenken gekommen, mich zu heiraten“, stellte er fest. „Das kann ich durchaus verstehen. Es war unerträglich anmaßend von mir, dir lediglich zu sagen, du sollest mich heiraten. Ich habe dir nie einen Antrag gemacht, wie es sich gehört.“
„Das ist nicht das Problem“, meinte Mirabel und wich ein wenig zurück.
„Ich bin nicht der Held, den du dir erträumt hast“, versuchte er es erneut. „Ich hätte dir den wahren Grund sagen sollen, weswegen ich mich geweigert habe, mir das Bein abnehmen zu lassen. Die Wahrheit ist, dass ich weitaus mehr Angst vor den Ärzten im Lazarettzelt hatte als vor dem Feind auf dem Schlachtfeld.“
„Eine sehr vernünftige Angst“, bemerkte sie. „Du würdest die Amputation nicht überlebt haben. Das ist auch nicht das Problem.“
„Das Schlimmste habe ich dir aber noch gar nicht erzählt“, fuhr er fort. „Ich war fast wahnsinnig vor Angst, als ich zu deinem Vater in das Erdloch hinabgestiegen bin.“
„Aber du hast es dennoch getan“, erwiderte sie. „Das nenne ich wahren Mut: seiner Angst zum Trotz zu handeln. Und auch hier war deine Furcht begründet. Ich habe noch nie in meinem Leben solche Angst ausgestanden wie in jenen schrecklichen Minuten. Das ist alles nicht das Problem.“
„Ich habe dir etwas verheimlicht.“ Er lief zum Spiegel hinüber und rückte seine Halsbinde ein wenig zurecht, bevor er zu Mirabel zurückkehrte. „Dein Vater und ich haben hinter deinem Rücken Pläne geschmiedet. Mir ist nämlich eine Idee gekommen. Statt eines Kanals werden Gordy und ich eine Eisenbahnstrecke bauen, die von den Kohlegruben zu den Kunden führt. Dein Vater heißt die Idee gut, und Gordy ist begeistert. Ich hätte es dir zuerst erzählen sollen, aber ich hatte es als Hochzeitsgeschenk gedacht. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie du voll der Bewunderung vor der Genialität meines Plans in Ohnmacht fallen würdest.“
Eine Eisenbahnstrecke! Sie hatte so lange vergeblich nach einer Lösung gesucht, doch stets war sie davon ausgegangen, dass es letztlich ein Kanal sein müsse. Eine Eisenbahnstrecke war ihr nie in den Sinn gekommen.
Mirabel war zutiefst gerührt und hielt ihre Hand fest zusammengeballt an die Brust gedrückt. „Es ist wahrlich ein brillanter Plan, und ich würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen, wenn ich nur wüsste, wie es geht. Sicher habe ich die Kunst des Ohnmächtigwerdens vor langer Zeit einmal erlernt, aber seitdem ist mir diese Fähigkeit leider abhandengekommen. Eine weitere weibliche Kunstfertigkeit, an der es mir mangelt.“ Tränen brannten ihr in den Augen, doch sie lächelte. „Du hast mir versprochen, eine Lösung zu finden, und du hast sie gefunden. Es ist ein ganz wunderbares Geschenk. Gewiss ist es nicht das Problem.“
Er fasste sie sachte bei den Schultern und sah sie auf diese ganz bestimmte Weise an, die sie stets dazu bewegte, den Blick seiner golden schimmernden braunen Augen wie gebannt zu erwidern, und die es ihr unmöglich machte, etwas vorzutäuschen.
„Es ist auch nicht von Bedeutung, dass ich nicht der Erste war“, sagte er mit sanfter Stimme. „Ich muss gestehen, dass ich hin und wieder einen Anflug von Eifersucht verspürt habe. Das ist natürlich unsinnig, denn ich habe ja beileibe auch nicht wie ein Mönch gelebt. Doch bin ich wohl von etwas besitzergreifendem Wesen und mochte dich nicht mit irgendjemandem teilen - selbst dann nicht, wenn es in längst vergangenen Zeiten geschehen ist, fast noch vor meiner Geburt. Es mindert meine Gefühle für dich nicht im Geringsten.“
„Nicht der Erste?“, wiederholte sie verständnislos. „Nicht der erste was? Nicht der Erste, den ich verschmähe und brüskiere? Aber ich verschmähe dich nicht. Oder vielmehr, ich ...“
„Ich weiß, dass ich nicht dein erster Liebhaber war“, unterbrach er sie. „Doch das macht
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