Ein unversoehnliches Herz
Unterbiss. Alles deutete auf eine Art von innerer Ausgeglichenheit hin, wie man sie bei erfolgreichen Bankiers oder geachteten Unternehmern fand. Bei Männern, die man als eher zuverlässig denn risikofreudig einstufte.
Ein letzter Blick auf die Uhr, bevor er den Bahnhof durch den Haupteingang betrat. Unabhängig davon, wie er auf andere wirkte – in diesem Augenblick fühlte Andreas sich wie jemand, der ein Risiko einging. Er hatte die Absicht, seinem Bruder die Hand zu reichen und sich um Einklang und Vergebung zu bemühen. Er mochte in den schweren Jahren darauf gewartet haben, dass Poul den ersten Schritt machte, hatte nun aber beschlossen, selbst aktiv zu werden. Es war an der Zeit, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und den Blick nach vorn zu richten. Fort mit dem Alten und Vermoderten, her mit dem Neuen und Frischen.
Der Zug aus Deutschland war fast auf die Minute pünktlich und rollte gemächlich am Bahnsteig ein. Er stampfte das letzte Stück heran, knurrte und zischte. Der Duft stieg allen Wartenden in die Nase. Der Geruch von Reise, Heimkehr, Abschied und Begegnung. Welch unerhörte Verlockung doch in diesen widersprüchlichen Düften liegt, dachte Andreas und postierte sich in der Nähe der Bahnhofshalle, um einen besseren Überblick zu haben.
Dicht gedrängt standen erwartungsvolle Menschen auf dem Bahnsteig und harrten der ersten Reisenden, die aus dem Zug stiegen. Gepäckkarren quietschten, als sie über den gepflasterten Untergrund gerollt wurden, jemand pfiff durchdringend auf einer Trillerpfeife. Und zu allem Überfluss der Dampf und die kreischenden Bremsen. Alle Bahnhofsrequisiten waren vorhanden, jeder aufdringliche Ton und Geruch. Aber nach einem letzten Aufheulen der Dampfpfeife stand der Zug, Türen wurden geöffnet, die ersten Füße lugten heraus und fanden den Weg zu den Trittleitern herab, die man auf den Bahnsteig gestellt hatte.
Das war der Moment, in dem Andreas Zweifel beschlichen. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust einen Satz machte und hart schlug. Die Symptome waren ihm vertraut.
War das wirklich ein kluger Entschluss? Was um Himmels willen hatte er hier zu suchen?
Seine Gedanken wurden jedoch schlagartig unterbrochen, als er Poul erblickte. Für Zweifel ist jetzt keine Zeit, dachte er und zwängte sich durch die Menschenmengen. Jeder schien in irgendeine Richtung unterwegs zu sein, und es kam ihm vor, als liefen mehrere gleichzeitige Bewegungen auf dem Bahnsteig in verschiedene Richtungen ab. Jemand suchte nach seinem Koffer, ein anderer wollte sich möglichst rasch ins Bahnhofsgebäude begeben, ein Mann beschwerte sich, als er nicht aussteigen konnte, weil ihm Leute im Weg standen. Seltsamerweise fand Andreas das Gewühl ringsum beruhigend, als befände er sich an einem sicheren Ort, im Auge des Orkans. Schließlich gelang es ihm, sich zu Poul vorzukämpfen und ihm die Hand auf die Schulter zu legen.
»Guten Tag, Poul.«
»Andreas! Was machst du denn hier?«
Es war die erwartete Reaktion. Poul betrachtete ihn eher misstrauisch als überrascht. Dann merkte er, dass Poul über seine Schulter hinwegschaute und den Blick besorgt über den Bahnsteig schweifen ließ.
»Ich bin gekommen, um dich abzuholen.«
Er griff nach Pouls Reisetasche, wollte auf gar keinen Fall seine Unschlüssigkeit zeigen. Sonst wäre alles vergebens.
»Komm, lass mich die Tasche tragen«, sagte er. »Den Koffer lässt du dir sicher nach Hause schicken, oder?«
Aber Poul legte augenblicklich seine Hand auf Andreas’ und hielt ihn zurück. Die Rücken leicht über die Tasche gekrümmt, blieben sie stehen.
»Nein, lass sie stehen. Ich warte auf Gunhild.«
»Gunhild kommt nicht.«
»Sie kommt nicht?«
»Nein, ich habe Amelie gebeten, Gunhild auszurichten, dass ich es ihr abnehmen kann, dich abzuholen.«
Poul blieb scheinbar fassungslos stehen und schüttelte mit kurzen, kleinen Rucken den Kopf. Er fuhr noch eine Weile fort, den Blick über den Bahnsteig schweifen zu lassen, ehe er seufzte und seine Aufmerksamkeit Andreas zuwandte.
»Willst du damit sagen, dass du meinetwegen hergekommen bist? Und dass du Gunhild gefragt hast?«
»Ja.«
Poul ließ die Tasche los, als wiche alle Kraft aus ihm, und Andreas hob sie an. So blieben sie einen Moment stehen, bis Andreas sich Richtung Ausgang in Bewegung setzte. Poul folgte ihm mit langsamen Schritten und nahm erneut die Suche nach Gunhild auf dem Bahnsteig auf.
Andreas wusste, dass es keine Rolle mehr spielte, ob es richtig
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