Ein unwiderstehliches Angebot: Roman (German Edition)
sollte, wie sie reagierte!
Lucien war ihr nämlich seit jeher ein Rätsel. Mit Anfang dreißig ein Jahrzehnt älter als Vivian und furchterregend ernsthaft, verkörperte er das krasse Gegenteil seines jüngeren Bruders Charles. Vor allem, was dessen eher leichtfertigen Lebenswandel betraf. So etwas gab es bei dem älteren Caverleigh nicht, oder man erfuhr zumindest nichts davon. Lucien benahm sich so, wie man es von dem Titelerben und nächsten Duke erwartete.
Er war perfekt, doch für ihren Geschmack ein wenig zu scharfsichtig.
Sie kannten sich alle seit ihrer Kindheit, und Charles und sie hatten ihn nur selten mit ihren zahllosen Eskapaden täuschen können. Immer wusste er über alles sofort Bescheid. Deshalb bezweifelte sie auch, ob sie in seiner Gegenwart mit ihrer Version der Geschichte durchkam. Dieser Bursche konnte Gedanken lesen.
Wie sollte sie da überzeugend ihre Rolle spielen?
Panik wollte in ihr aufsteigen. Nein, das durfte sie nicht zulassen. Sie musste unter allen Umständen dabeibleiben, dass sie von nichts wusste. Was ihr zumindest Vorhaltungen ersparen würde … Nur war sie sich leider Gottes absolut nicht sicher, dass ihr die Maskerade überzeugend gelang. Schon gar nicht, nachdem Lucien hier aufgetaucht war.
Wirklich eine komplizierte Angelegenheit.
»Ich fürchte, wir befinden uns in einer vertrackten Lage«, leitete ihr Vater das Gespräch ein. Seine grünen Augen, zur Abwechslung mal ohne Brille, schauten in die Runde. Er und der Duke verstanden sich sehr gut, waren beide in sich gekehrt und frönten im Grunde nur einer Leidenschaft: der Botanik und natürlich den damit verbundenen Reisen. Beide betrachteten das im Übrigen nicht als bloßes Hobby, sondern hatten sich in der Fachwelt einen exzellenten Ruf als anerkannte Wissenschaftler erworben.
Jedenfalls waren die beiden, solange Vivian zurückdenken konnte, die besten Freunde. Und das war in diesem Augenblick das Problem. Ihr Problem. Denn vor einiger Zeit hatten die beiden Herren beschlossen, ihre Kinder miteinander zu verheiraten.
Vivian wartete und hoffte, ihr Blick wirkte ausreichend unschuldig.
Der Duke ergriff persönlich das Wort. Er hüstelte. »Ich fürchte, Charles ist durchgebrannt.«
Es war einen Moment lang still. Nur das Ticken der Standuhr in einer Ecke des mit schönen alten Stücken möblierten Raumes war zu hören. Vivian wusste nicht, ob ihr schauspielerisches Talent reichte, um überrascht nach Luft zu schnappen und Verzweiflung zu heucheln und drei Männer zu täuschen, deren Blicke aufmerksam auf sie gerichtet sein würden, um den Grad ihres Kummers und ihrer Enttäuschung zu ermessen. Und die erwarteten, dass sie am Boden zerstört war. So gehörte es sich schließlich, wenn man erfuhr, dass der Verlobte durchgebrannt war.
Mit einer anderen.
Betreten hielt sie den Blick gesenkt, rang die Hände und flüsterte heiser und stockend: »Ich … verstehe.«
Zweifellos keine Vorstellung, die ihr auf einer Bühne Begeisterungsstürme eingebracht hätte. Vivian war schon zufrieden, wenn sie einigermaßen glaubwürdig wirkte.
»Ich nicht«, murmelte der Duke. »Dieser verantwortungslose Narr.«
»Wir können alle nur froh sein, dass die Verlobung bislang nicht offiziell verkündet wurde oder in den Zeitungen stand und die Einladungen für den Empfang noch nicht verschickt sind. Wenigstens diese Peinlichkeit bleibt uns erspart«, sagte ihr Vater mit einem gewissen Pragmatismus. Vermutlich war er zunächst einmal erleichtert, dass sie bei der Neuigkeit nicht sofort in Tränen ausgebrochen war.
Wenn er wüsste, dachte sie. Sie hatte Charles nicht nur geholfen, diese überhastete Reise nach Schottland zu planen, sondern ihn überdies ermutigt, sich heimlich um eine andere zu bemühen. Das hielt sie für ihre Pflicht als gute, langjährige Freundin, die sie war. Schließlich wollte sie, dass er glücklich wurde. Und sie genauso.
Aber nicht unbedingt gemeinsam.
»Natürlich entschuldige ich mich für das Vorgehen meines Sohnes und für allen Schmerz oder jede Unannehmlichkeit, die er dir bereitet hat, meine liebe Vivian.« Der Duke schien wie ihr Vater froh über das Ausbleiben hysterischer Reaktionen wie Tränenausbrüche oder Wutanfälle.
Natürlich würde es demütigend für sie sein, falls die Geschichte von der geplatzten Verlobung doch die Runde in der Gesellschaft machte. Trotzdem fand sie es besser, bei solchen Entscheidungen seinem Herzen zu folgen. Und Charles hatte nun mal eine Schwäche für die
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