Ein Vampir fuer alle Sinne
Schreibtisch zurück, um ihre Handtasche zu holen.
»Jeanne?«
Sie blieb an der Tür stehen und drehte sich zu Kim um. »Ja?«
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann … dann sag es einfach, okay?«, bot sie ihr an.
»Womit helfen?«, gab Jeanne Louise irritiert zurück.
»Es heißt«, begann Kim nach einer langen Pause, »dass Außenstehende frischgebackene Lebensgefährten sehr leicht lesen können, aber eigentlich ist es eher so, dass die ihre Gedanken an die Umgebung ausstrahlen. Jedenfalls ist das bei dir so.«
Sie sah der jungen Frau einen Moment lang in die Augen. »Danke«, sagte sie dann und verließ das Labor.
Wie es schien, war es völlig egal, ob sie jemandem etwas anvertraute oder nicht: Sie war für jeden ein offenes Buch. Das erklärte auch, warum andere Leute in letzter Zeit ihrem Blick auswichen und so extrem freundlich zu ihr waren. Sie war die tragische Figur, ein lebendes Beispiel für das, wovor sich jeder Unsterbliche fürchtete – eine, die ihren Lebensgefährten gefunden und gleich wieder verloren hatte.
Seufzend straffte sie die Schultern und ging strammen Schritts weiter. Sie konnte nichts daran ändern, dass andere Unsterbliche sie derzeit so mühelos lesen konnten, aber sie musste nicht auch noch die bemitleidenswerte Kreatur abgeben, für die sie von allen gehalten wurde. Sie hatte einen Lebensgefährten gefunden, ihn aber nicht für sich beanspruchen können. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig, dass sie nie wieder einem potenziellen Lebensgefährten begegnen würde, hoffentlich natürlich einem, der bereits unsterblich war und nicht noch gewandelt werden musste.
Allein dieser Gedanke machte Jeanne Louise gleich wieder depressiv. Sie wollte keinen anderen Lebensgefährten, sie wollte Paul. Aber auch nicht nur für ein paar Jahrzehnte. Sie verzehrte sich so sehr nach ihm, wie sie es noch niemals zuvor getan hatte, und das schon nach nur ein paar Wochen an seiner Seite. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es sein würde, ihn für die Dauer seines sterblichen Lebens zu haben und ihn dann zu verlieren. Jeanne Louise war nicht in der Lage sich auszumalen, wie schlimm der Schmerz dann sein musste. Dann lieber jetzt diesen schrecklichen Schmerz in ihrer Seele als die Qual, die sie später erwarten würde. Andererseits war vielleicht jede Qual erträglich, wenn das für sie hieß, dass sie noch etwas Zeit an seiner Seite verbringen konnte.
Aber das war ja das Problem, überlegte sie, als sie die Cafeteria erreicht hatte, ein Tablett nahm und an der langen Theke entlangging, nur um so wie immer ein Schinkensandwich und eine Flasche Orangensaft aus dem reichhaltigen Angebot auszuwählen. Ihre Gedanken drehten sich unablässig im Kreis. Sie wollte Pauls Lächeln sehen, sein Lachen hören, ihm in die Augen schauen. Sie wollte von ihm geküsst und umarmt werden, sie wollte sich an seinen Körper schmiegen. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie auch, dass es sie umbringen würde, wenn sie ihn verlor. Das wiederum hielt sie jedoch nicht davon ab, jeden Abend auf dem Weg zur Arbeit bei ihm vorbeizufahren, weil sie hoffte, einen kurzen Blick auf ihn oder sogar Livy werfen zu können. Sie benahm sich wie ein Junkie oder eine Stalkerin, und allmählich machte ihr eigenes Verhalten ihr Angst. Jeden Abend verfluchte sie sich dafür, dass sie diesen Weg nahm, und verschämt nahm sie sich vor, dass es definitiv das letzte Mal war. Bis es am Abend darauf wieder ganz genauso ablief.
Frustriert atmete Jeanne Louise aus, während sie ihr Essen bezahlte. Dann ging sie zu einem freien Tisch und überlegte, ob sie ihren Onkel, ihre Tante und ihren Vater davon überzeugen konnte, ihre Erinnerung an Paul zu löschen. Sie wusste, so etwas war ein gefährliches Unterfangen, aber wenn es sie nicht umbrachte und erfolgreich war, dann würde ihr Leiden ein Ende haben. Sie würde sich nicht an ihn erinnern, nicht mehr wissen, wie sie sich geküsst und geliebt hatten, und keinerlei Vorstellung davon haben, was sie verloren hatte …
»Wenn dir Schinken nicht mehr schmeckt, solltest du es mal mit Speck, Salat und Tomate versuchen.«
Erschrocken hob Jeanne Louise den Kopf und konnte nicht fassen, dass sie in das Gesicht des Mannes schaute, der jeden ihrer Gedanken so völlig beherrschte. Er trug Jeans und T-Shirt, dazu eine Sonnenbrille, so, als wollte er irgendwo an einen Strand fahren. Er war eindeutig nicht hergekommen, um zu arbeiten.
»Paul«, flüsterte sie, während ihr Körper allein
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