Ein verwegener Gentleman
wollte nur Vergeltung. Während sie darüber nachdachte, kehrte der Butler zurück.
„Der Viscount erwartet Sie.“ Die Stimme des Dieners klang ein wenig überrascht.
Elizabeth erhob sich. Nur die Farbe auf ihren Wangen verriet, wie aufgeregt sie war. „Gut“, sagte sie knapp. „Bitte sorgen Sie für eine kleine Erfrischung für meine Zofe, während sie auf mich wartet.“
Während sie dem Butler durch den Korridor folgte, klammerte sie sich an das quälende Bild von Jane Selby und ihrem kleinen Sohn. Was bedeutete schon ihre eigene Demütigung im Vergleich zu der Notlage dieser beiden armen Kreaturen?
Schließlich klopfte der Bedienstete an eine große Flügeltür, öffnete sie und trat beiseite, um sie vorbeizulassen, doch Elizabeth blieb auf der Schwelle stehen. Der Viscount stand am Kamin, einen Arm auf den Sims gestützt, einen Fuß auf das Messinggitter gestellt. Auf einem Beistelltisch in seiner Nähe stand ein Cognacschwenker, und auf der Lehne des Sessels daneben lag ein aufgeschlagenes Buch mit den Seiten nach unten, das er wohl gerade erst weggelegt hatte. Die Szene wirkte so unerwartet privat und gemütlich, dass sie im ersten Augenblick verwirrt war. Was sie sah, passte so gar nicht zu Ross Trelawney, dem Freibeuter. Sie wäre fast versucht gewesen, sich bei ihm für die Störung zu entschuldigen.
„Kommen Sie bitte herein“, sagte Ross höflich und bedeutete ihr, den geräumigen, mit Eichenholz vertäfelten Salon zu betreten.
Elizabeth errötete, tat jedoch, wie ihr geheißen. Um ihre Verwirrung zu überspielen, sprudelte sie hervor: „Ich weiß, ich hätte nicht kommen dürfen. Mein Verhalten ist ziemlich ungehörig. Aber … aber da Sie und ich keinen guten Ruf zu wahren haben, dachte ich, es würde Ihnen nichts ausmachen.“
Er lächelte schief. „Es macht mir nichts aus.“
Elizabeth nickte und befeuchtete ihre Lippen. „Es ist wichtig, sonst wäre ich nicht hier.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Natürlich ist es wichtig“, beruhigte er sie.
Sie sah ihn an. Jede Frau, die seinen zweifelhaften Ruf und seine Herkunft nicht kannte, würde einfach nur einen beeindruckenden, gut aussehenden Mann vor sich sehen, der einen ruhigen Abend mit einem Buch verbrachte. Er machte den Eindruck eines perfekten Gentlemans, dabei hatte sie angenommen, dass er ein ungebildeter Tölpel wäre. Und er hatte seine Häuslichkeit nicht ihretwegen vorgetäuscht. Er hatte ja nicht wissen können, dass sie kam. Vor ihr stand der Mann, nicht der Mythos.
„Ich nehme an, Sie haben meinen Brief erhalten?“, unterbrach er ihre Gedanken.
„Ja. Deshalb bin ich hier.“
Er nickte. „Danke, dass Sie so rasch reagiert haben.“
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, suchte nach Anzeichen von Sarkasmus.
„Möchten Sie eine Tasse Tee?“
„Nein, danke. Ich halte es für das Beste, sofort zur Sache zu kommen.“ Wieder errötete sie, als sie sah, dass er lächelte. „Das heißt … ich kann nicht lange bleiben.“
„Ich verstehe.“
Er war zu höflich. Es war, als ob der rücksichtslose Fremde, der ihr mit einer grauenvollen Zukunft gedroht hatte, nie existiert hätte.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er ruhig: „Da Sie den Mut hatten, heute Abend herzukommen, Mylady, möchte ich Sie für mein unhöfliches Verhalten bei unserer letzten Begegnung um Verzeihung bitten.“
„Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten“, lehnte sie sofort beunruhigt ab.
„Weshalb nicht? Weil es eine Entschuldigung Ihrerseits erfordern würde?“
„Dazu habe ich keinerlei Grund!“, erklärte sie hitzig.
„Dann verschieben wir den Austausch von Artigkeiten auf später“, sagte er trocken, doch mit einem nachsichtigen Lächeln.
„Artigkeiten sind zwischen uns zu keiner Zeit erforderlich. Dies ist kein Anstandsbesuch“, gab sie zurück. „Ich habe neulich gesagt, dass ich hoffe, Ihre Gegenwart nie wieder ertragen zu müssen. Meine Ansicht hat sich nicht geändert.“
„Weshalb sind Sie dann hier?“ Er ging zwei Schritte auf sie zu, und als sie zwei Schritte zurückwich, blieb er stehen und wandte den Blick ab. „Wenn Ihnen meine Gesellschaft so zuwider ist und Sie Ihr Kommen bedauern, sollten Sie gehen. Ich werde Sie nicht aufhalten.“
Wenn sie das nur tun könnte! Innerlich wand Elizabeth sich vor Zorn und Demütigung. Aber sie durfte nicht gehen, nicht ohne die Halskette.
Ross beobachtete, wie sie abwechselnd errötete und erbleichte. Er spürte ihren inneren Aufruhr. Er ließ
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