Ein verwegener Gentleman
zu.
Elizabeth blickte Hugh an. Er brauchte keine weitere Ermutigung. Er kam auf sie zu und ergriff ihre schmalen, kalten Hände. „Es tut mir so leid, Elizabeth. Ihre Großmutter hatte recht, mich zu tadeln. Wenn ich Sie nicht dorthin mitgenommen hätte, wäre es heute Abend nicht zu der Begegnung mit Mrs. Selby gekommen.“
„Ich bin froh darüber“, warf Elizabeth ein und drückte seine Hände. „Endlich habe ich die Gelegenheit, wirklich etwas zu verändern. Und fühlen Sie sich bitte nicht schuldig. Ich habe mich freiwillig für die Barrow Road engagiert. Und ich möchte auch weiterhin helfen. Mehr als je zuvor.“
„Wenn Sie das wirklich wollen, Elizabeth, dann müssen Sie mir gestatten, Sie mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu beschützen. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie den Schutz meines Namens und meiner bescheidenen Berufung akzeptieren würden …“
Elizabeth drückte seine Hände fester und unterbrach ihn. „Bitte sprechen Sie nicht weiter davon, Hugh. Aber ich will, dass Sie wissen, wie dankbar ich bin, Sie zu meinen besten und loyalsten Freunden zu zählen.“ Sie machte sich los und lachte freudlos. „Es war ein aufregender Tag, um es milde auszudrücken. Ich denke, ich werde mich früh zurückziehen. Zuerst sollte ich aber wohl meinen Frieden mit meiner Großmutter machen.“
Hugh brachte ein unsicheres Lächeln zu Stande. Dann berührte er flüchtig Elizabeths Hand mit seinen Lippen und ging.
Elizabeth rieb sich seufzend mit einem warmen, duftenden Waschlappen den Tagesstaub vom Gesicht. Als sie ihre Arme und Schultern wusch, fiel ihr Blick auf die Nachricht auf ihrem Sekretär, und ihr Herz machte einen Sprung. Sie legte den Waschlappen weg und nahm den Brief an sich. Bei all der Aufregung wegen Jane Selby hatte sie den Viscount und ihre eigenen Probleme ganz vergessen. Aber im Vergleich zu ihren heutigen Erlebnissen schien die Angelegenheit auch beinahe unbedeutend zu sein. Sie hatte eine liebevolle Großmutter, genug zu essen, saubere Kleidung und ordentliches Bettzeug. Eigentlich hatte sie keine Probleme.
Noch einmal las sie Strattons kurzen Vorschlag, ihn ein weiteres Mal zu treffen, um ihr vielleicht ihre Familienjuwelen zurückzugeben. Die Worte schienen ihr förmlich entgegenzuspringen. Eine Idee begann in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Sie war so einfach und doch so schockierend, dass sich erst einmal setzen musste.
Was hatte sie schon zu verlieren? Aber wenn sie nicht sofort handelte, solange ihr der Schrecken über Janes Notlage noch in den Knochen saß und der Gedanke an einen kleinen, betäubten Jungen auf einem schmutzigen Bett ihr noch die Kehle zuschnürte, dann würde sie vielleicht nicht mehr den Mut aufbringen, aus wahrem, selbstlosem Mitleid zu handeln.
Die Nachricht entglitt ihren zitternden Fingern und fiel auf die Schreibunterlage. Elizabeth starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Baumwipfel schwankten vor ihrem Fenster in der herbstlichen Brise. Es war noch nicht sehr spät. Kurz vor neun Uhr, schätzte sie. Sie wusste, dass Edwina sich bereits zurückgezogen hatte …
Sie sah zu ihrer Zofe hinüber, die ihr ein Nachtgewand bereitlegte. „Nein, Josie“, teilte sie ihr mit. „Ich brauche das blaue Samtkleid und den schwarzen Satinumhang mit der Kapuze.“ Ein hysterisches Kichern entschlüpfte ihr, als die Bedienstete sie mit offenem Mund anstarrte. „Ich muss noch einmal ausgehen. Und so leid es mir tut, aber ich fürchte, du musst mich begleiten.“
7. KAPITEL
Falls er es ungewöhnlich fand, dass eine Dame gegen zehn Uhr abends erschien und seinen Herrn sprechen wollte, so behielt der Butler seine Überraschung für sich.
Er führte sie in den Salon und deutete auf einen Sessel. Elizabeth nahm Platz und dankte ihm mit einem kurzen Kopfnicken. Sie forderte Josie auf, sich ebenfalls zu setzen, was diese gehorsam tat.
„Ich werde nachsehen, ob Viscount Stratton Sie empfängt“, verkündete der Bedienstete mit kaum verhohlenem Pessimismus. Wieder neigte Elizabeth nur hochmütig den Kopf.
Nachdem der Butler den Raum verlassen hatte, sah sie sich um. Die Pracht dieses Wohnsitzes war beeindruckend, aber Elizabeth weigerte sich, auch nur einen Funken Bewunderung zu empfinden. Ganz sicher waren nicht nur die edlen Porzellanfigurinen, auf die ihr Blick fiel, unbezahlbare Beutestücke aus konfiszierten Frachten. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Der Viscount war nicht knapp bei Kasse; er
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