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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Wanderstock« nannte, der andere mit den kurzen Fingern seiner Rechten, denn links trug er die gebauchte Aktentasche. Der Stummfilm. Schreitend der eine, tippelnd der andere. Vom Großen Stern aus gesehen, kamen sie gut voran. Mantel mit Mantel zu einem Schattenriß verwebt, obgleich sie nicht Arm in Arm gingen. Am Ende der Paradestraße verschwanden beide für kurze Zeit, weil sie den ungebremsten Kreisverkehr um die Siegessäule durch einen Tunnel, extra für Fußgänger gebaut, unterlaufen mußten. Nun, da das Paar weg ist, sind wir versucht, über Berlins Sehenswürdigkeit, die in ganzer Höhe beide Weltkriege überstanden hat, zu lästern, doch Fonty fällt uns ins Wort; kaum waren sie wieder aufgetaucht, bot sich vorm Sockel der hochragenden Säule, die bis zur Spitze des siegreichen Feldzeichens sechsundsechzig Meter mißt, Gelegenheit für Abschweifungen ins historische Feld, entweder mit Hilfe vielstrophiger Gedichte oder aus Erinnerung, die bis zum Sedanstag und noch weiter treppab zurückreichte. Wie es sich anhörte, hatten sie am 2. September 1873 die Enthüllung der Siegessäule miterlebt. Damals stand die erhöhte Borussia als Viktoria auf dem Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde sie auf allerhöchsten Befehl abgetragen und vom Vorfeld des Reichstagsgebäudes an den Großen Stern versetzt.
Sehenswürdig soll ein Relief sein, das in Sichthöhe Sieg nach Sieg die Einheitskriege feiert. Hier trägt ein lockenköpfiger Junge dem Vater, den die Mutter zum Abschied umarmt, das Gewehr, dort haben Landsturmmänner das Bajonett aufgepflanzt. Ein Trompeter bläst zum Angriff. Über Gefallene geht es vorwärts. Sie schritten den Sockel ab. Weil die Säule, samt rotschwedischem Granit, allseitigem Metallguß und krönender Siegesgöttin, im letzten, elend verlorenen Krieg Schaden genommen hatte, wies Hoftallers Zeigefinger überall Löcher nach, denen nicht anzusehen war, ob Bomben- oder zum Schluß Granatsplitter ihr Ziel gefunden hatten. Durchlöchert die Brust eines Infanteristen. Halbierte Helme. Drei Finger nur hat die Hand. Hier fehlt einem gußeisernen Dragonerpferd das rechte Vorderbein, dort stürmt ein kopfloser Hauptmann voran, sei es bei Düppel, sei es bei Gravelotte. Bekümmert zog Hoftaller Bilanz. Fünfzig und mehr Einschüsse zählte er, den Schaden am Granitsockel nicht mitgerechnet. Aber Fonty hatte, was Siege betraf und soweit Preußens Geschichte zurückreichte, mehr als die Säule zu bieten.
Er zitierte den Grafen Schwerin und dessen Fahne, den alten Derfflinger, die Generäle Zieten und Seydlitz, obendrein alle Schlachten von Fehrbellin über Hohenfriedberg bis Zorndorf. Schon wollte er Preußens Siege und gelegentliche Niederlagen an die Standarten berühmter Regimenter knüpfen und des Großen Friedrich besungene Haudegen mit knappem Zitat vorführen – »Herr Seydlitz bricht beim Zechen den Flaschen all den Hals, man weiß, das Hälsebrechen verstund er allenfalls …« –, da wurde Fonty, der bereits Atem zum Balladenton sammelte und samt Stock die Arme hob, von hinten angestupst.
Ein Junge, den er uns später als sommersprossig geschildert hat, sagte einen Wunsch auf: »Ob Se mia mal nen Schnürsenkel binden könn? Kann ick nämlich nich. Bin erst fünfe.«
Fonty bückte sich, legte den Wanderstock ab und band, wie gewünscht, den offenen Senkel des rechten Schuhs zur Schleife.
»So«, sagte er, »die hält.«
»Na, nächstet Mal kann ick selba!« rief der Junge und rannte zu den anderen Jungs, die rund um die Siegessäule und umrundet vom Kreisverkehr Fußball spielten.
»Da haben Sie’s«, sagte Fonty, »nur sowas ist wichtig. Schlachten, Siege, Sedan und Königgrätz sind null und nichtig. Alles Mumpitz und ridikül. Deutsche Einheit, reine Spekulation! Die erste gelungene Schnürsenkelschleife jedoch, die zählt.«
Hoftaller stand in abgelaufenen Schnallenschuhen. Er wollte sich nicht erinnern.
    Dann war die Sonne weg. Durch den Fußgängertunnel unterwanderten sie abermals den Großen Stern, gingen die Straße des 17. Juni lang und wollten ab S-Bahnhof Tiergarten die Bahn nehmen. Zwei alte Männer im Gespräch. Ihre Gesten nun eckiger. Keinen Schatten warfen sie mehr.
    Und jetzt erst, nicht voreilig verfrüht, sondern knapp vierzehn Tage vor dem runden Anlaß, begann Hoftaller, seine Einladung vorzubereiten: »Wird man nicht alle
    Tage, siebzig.«
»Zur Feier fehlen mir einige Zentner Überzeugung.« »Die kommt noch,

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