Ein Winter mit Baudelaire
Klarmachen zum Gefecht. Fatima schneidet Philippe die Haare und befiehlt ihm unter einem Schwall von Berber-Schimpfworten, sich seinen Pennerbart abzurasieren. Derweil treiben Ahmed und Mouloud Schuhe, Krawatten, Hemden und Anzüge auf, »billiger als gratis«, so der muntere Kommentar, nämlich Ware, die frisch vom Lastwagen gepurzelt sei.
Und so beginnt er wieder, der große Bewerbungs-Marathon zwischen Personalreferenten, Personalchefs und Psychologen aller Arten mit ihren seltsamen Verhörtechniken:
»Schlafen Sie mit nackten Füßen oder mit Strümpfen?«
»Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Sind Sie eher der Typ Slip oder Boxershorts?«
»Haben Sie schon einmal Angst davor gehabt, auf der Straße zu enden?«
»Träumen Sie in Schwarz-Weiß oder in Farbe?«
»Mögen Sie Hunde?«
Ganz zu schweigen von den drängenden Fragen, die die einjährige Lücke in seinem Lebenslauf natürlich heraufbeschwört, eine Lücke, die Philippe kaschiert hat mit einerwohlformulierten »Beurlaubung zu Bildungszwecken«, durch die er seine »Kenntnisse der menschlichen Psyche« habe erweitern wollen. Die Ergebnisse all dieser Gespräche lassen sich in vier Worten zusammenfassen: »Wir rufen Sie an.«
Dann das Warten, die Wochen, die ins Land gehen, die Hoffnung, an der immer mehr der Zweifel nagt, denn es ruft nie jemand an, nicht einmal, um ihm einfach nur Nein zu sagen.
Im selben Zeitraum bringt Baudelaire jede Woche seine drei Strahlenbehandlungen hinter sich. Er lässt alles ohne Murren über sich ergehen, aber es geht ihm zusehends schlecht. Meistens liegt er in der Küche von Bébère, der darauf achtet, dass er genug frisst und trinkt.
Dann kommt der schicksalhafte Tag, an dem sie Le Fleuron verlassen müssen, um wieder den Asphaltnächten ins Auge zu blicken. Baudelaire, von den ersten Behandlungstagen geschwächt, setzt mühsam eine Pfote vor die andere. Fatima beschließt, dass sie in der Küche kampieren sollen, bis Baudelaire das Fell nachgewachsen ist, das er zu verlieren beginnt, oder Philippe eine Arbeit gefunden hat und somit auch eine Bleibe.
Doch als der April schon das Lügennetz eines ersten Wärmeeinbruchs über die Stadt legt, hat Philippe immer noch nichts gehört, nur das stete, unwandelbare »Wir rufen Sie an«, das in gleichgültigem Schweigen verklingt.
Sonnenstrahl
Philippe spaziert mit seiner Tochter und Baudelaire am Seineufer entlang. An diesem ersten Mittwoch im Mai hat die Sonne, deren Wärme erstmals den Geruch des Sommers in sich trägt, den heuchlerischen April endgültig vertrieben. Die Abende und Nächte sind noch kühl, aber das laue Licht des Tages klingt immer deutlicher in ihnen nach.
Überall werden die Röcke kürzer, die Dekolletés tiefer. Die Terrassen, Wiesen, Mäuerchen, jedes noch so kleine sonnige Eckchen wird von winterlich bleichen Körpern in Besitz genommen, die sich ungeduldig entblößen, um endlich wieder Farbe zu bekommen.
Baudelaire trottet ihnen einige Meter voraus. Er ist dünn geworden und ziemlich kahl, aber das Fell beginnt an einigen Stellen schon nachzuwachsen.
»Die Ergebnisse sind zufriedenstellend«, hat der Tierarzt nach Beendigung der Strahlentherapie gesagt. »Wir sehen uns Mitte Juni zur Kontrolle wieder.«
Philippe ist vor den Auslagen eines Bouquinisten stehen geblieben und entdeckt ein Buch, dessen weißer Einband im Lauf der Jahre vergilbt ist: Pariser Spleen , Charles Baudelaire, Éditions Cluny. Er schlägt es auf. Es ist in sehr gutem Zustand. Auf der letzten Seite steht: »Dieses Buch wurdegedruckt in der Buchdruckerei Darantière in Dijon im März MCMXXXVII«.
»Wie viel?«
»Fünfzehn Euro.«
Er kauft es, und sie setzen ihren Spaziergang fort.
»Was ist das?«, fragt Claire.
»Ein Geschenk für Bébère.«
»Aber was ist das?«
»Prosagedichte von Charles Baudelaire.«
»Wer ist das?«
»Ein großer französischer Dichter aus dem19. Jahrhundert, und er ist Bébères Lieblingsdichter. Deshalb nennen wir Baudelaire auch Baudelaire.«
»Warum?«
Sie setzen sich auf eine Bank. Baudelaire schiebt den Kopf unter Claires Arm. Philippe schlägt vorsichtig das Buch auf. Sein Handy klingelt. Auf dem Bildschirm: »Ahmed.« Philippe nimmt das Gespräch nicht an, sondern schaltet das Handy aus und beginnt, Claire Die braven Hunde vorzulesen.
»Das ist schön, findest du nicht?«, fragt er, als er fertig ist. Claire nickt mehrmals, während sie nachdenklich die Beine baumeln lässt.
»Papa?«
»Ja, Prinzessin?«
»Wie
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