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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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klaren Sieg über die langen, dunklen Wintermonate errungen.
    »Tun Sie es«, sagt er schließlich leise.
    Der Tierarzt ruft mehrere Helfer und lässt den OP-Raum vorbereiten. Sie nehmen Baudelaire und legen ihm Leine und Maulkorb an, ehe sie ihn in einem Flur vor der Tür des OP-Raums anbinden.
    Philippe und Bébère hocken sich vor ihm nieder, streicheln ihn und lächeln ihm aufmunternd zu, aber Baudelaire tritt unruhig auf der Stelle, winselt und versucht vergeblich zu bellen.
    »Wir müssen jetzt anfangen«, sagt der Tierarzt.
    Philippe streichelt ihn ein letztes Mal und geht in Begleitung von Bébère langsam durch den weißen Flur davon. Baudelaire will ihnen nachlaufen, aber die Leine hält ihn zurück. Er zieht mit aller Kraft daran, während sein Jaulen hinter den Riemen des Maulkorbs immer verzweifelter wird.
    Philippe dreht sich um.
    »Geben Sie ihm eine Spritze«, weist der Tierarzt die Helfer an.
    Sie versuchen, Baudelaire festzuhalten, aber er tritt wild um sich, wimmert und stöhnt, als müsste er jede Sekunde ersticken.
    Philippe macht kehrt.
    »Binden Sie ihn los.«
    Alle sehen ihn verdutzt an.
    »Binden Sie ihn los!«
    Der Tierarzt geht zu ihm.
    »Er wird sterben«, sagt er.
    »Aber nicht so.«

Pariser Spleen
    Vor der Académie française, an der Ecke zum Pont des Arts, hält Bébères Fiat in der zweiten Reihe an. Baudelaire liegt eingewickelt in die Decke, in der er die Hin- und Rückfahrt nach Maisons-Alfort zurückgelegt hat, auf Philippes Schoß.
    Philippe nimmt Baudelaire auf den Arm und steigt aus.
    Bébère beugt sich zur offenen Beifahrertür.
    »Bist du sicher, dass …«
    Philippe nickt. Bébère erwidert das Nicken schweigend, zieht die Tür zu und fährt davon.
    Ein wunderbarer Tag geht über Paris zur Neige und taucht den Himmel in eine Mischung aus Rot- und Orangetönen. Auf der Fußgängerbrücke halten sich Gruppen von Menschen auf, die picknicken, Bier trinken, zu Musik jonglieren oder einfach nur von einem Ufer zum anderen gehen.
    Philippe setzt sich, zur untergehenden Sonne gewandt, auf eine freie Bank. Er deckt Baudelaire gut zu, bettet den Kopf in seine Ellenbeuge, damit er die Abenddämmerung sehen kann, und wiegt ihn sanft. Baudelaire zittert leicht, man sieht ihm an, dass er Schmerzen hat.
    »›Spleen‹ ist eigentlich das englische Wort für ›Milz‹, weißt du …«
    Erbetrachtet Baudelaire. Seine Augen gehen zu. Er kämpft dagegen an. Seine Glieder sind steif und kalt.
    »Es war einmal«, fängt Philippe an und blickt zum Horizont, »in längst vergangenen Zeiten, ein junger Mann und eine junge Frau. Sie liebten sich, aber sie gehörten zu verfeindeten Volksstämmen. So konnten sie sich nur nach Einbruch der Nacht treffen. Zu dieser Zeit existierten die Sterne noch nicht. Die Nacht war das Reich, in dem die Götter und Geister der Hölle einen erbitterten Krieg führten. Abends gingen alle Menschen heim, um ihre Häuser erst in der Morgendämmerung wieder zu verlassen. Alle bis auf den jungen Mann und die junge Frau. Wenn sie zusammen waren, empfanden sie ein solches Glück, dass ihre Körper zu leuchten begannen, und dieses Licht störte die Dunkelheit und die Pläne der göttlichen Kontrahenten. Die himmlischen Mächte und die unterirdischen Kräfte verkündeten einen außerordentlichen Waffenstillstand. Sie beschlossen, sich zu verbünden, um die Liebenden zu fangen. Die beiden wurden getrennt. Den jungen Mann sperrte man in den Himmel und in die Nacht; das junge Mädchen wurde dazu verurteilt, nur auf der Erde und am Tag zu leben. Der junge Mann weinte so bitterlich, dass seine Tränen kleine, glitzernde Löcher in den Schleier der Nacht rissen, und daraus wurden die Sterne. Durch diese funkelnden Öffnungen suchte er unermüdlich den Erdball ab, um seine Geliebte wenigstens zu sehen. Das junge Mädchen aber stand in der Morgenröte auf und starrte minutenlang, während die Sterne vor dem erbleichenden Himmel erloschen, wie gebannt und ohne ein einziges Mal zu blinzeln, in die tausend Augen ihres Geliebten. Dann weinte auch sie und bedeckte die Erde mit einer feuchten Tränenschicht, die wir als Morgentau kennen …«
    Philippe hört auf, Baudelaire in seinen Armen zu wiegen. Er betrachtet ihn, streichelt ihm über die Schnauze und über die Ohren. Baudelaire hat die Augen geschlossen. Er zittert nicht mehr. Er atmet nicht mehr. Er ist zur Ruhe gekommen.

Sternenstaub
    In den Straßen ist es voll.
    Mit einer großen elsässischen Plätzchendose unter dem Arm geht

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