Die Knickerbocker Bande 045 - Der Mann ohne Gesicht
Nächtlicher Kampf
Der Plan schien absolut sicher. Es konnte gar nichts schief gehen.
Pünktlich um ein Uhr morgens piepste der kleine Wecker unter dem Kopfkissen. Ein zerstrubbelter Kopf sauste hoch, und zwei drahtige Beine kamen unter der Bettdecke hervor. Die Füße steckten in weichen Kletterschuhen.
Eine Minute nach eins wurde fast lautlos das mittlere Fenster im dritten Stock geöffnet. Gleich darüber befand sich ein dicker Holzbalken, an dem schon am Vorabend ein Seil befestigt worden war. Die Beine schwangen sich ins Freie.
Vom Fenster ging es mindestens acht Meter in die Tiefe. Einen Gehsteig oder eine Straße gab es unten nicht. Das Haus lag an einer der vielen Amsterdamer Grachten, einem Wasserweg.
Die dunklen Wellen schlugen sachte gegen die Hauswand, und es plätscherte leise. Sonst war kein Geräusch zu hören. Allerdings stand das Haus in einem sehr ruhigen Stadtteil von Amsterdam.
Zwei kräftige Hände packten das Seil, und eine schlanke Gestalt glitt aus dem Fenster. Geschickt schlang sie sich das Seil um einen Knöchel und rutschte vorsichtig nach unten. Das Ziel war ein Fenster im ersten Stock - genau gesagt: das Zimmer, das dahinter lag.
Am Himmel zwischen den Häusern kam der Mond zwischen den Wolken zum Vorschein. Sein Licht reichte aus, die Gestalt ein wenig zu beleuchten.
Sie hatte einen unnatürlich großen, eckigen Schädel und strähnige Haare. Kinn und Nase waren riesig, und die Augen traten weit aus den Höhlen.
In der Ferne wurde das Brummen eines Motorbootes hörbar.
Die Gestalt verharrte einen Augenblick und lauschte in die Nacht.
Das Brummen kam rasch näher.
Damit hatte der nächtliche Kletterer nicht gerechnet. Auf dem Seil hängend war er natürlich für jedes vorbeifahrende Boot gut sichtbar.
Hastig begann er wieder nach oben zu klettern.
Das Motorboot war noch schneller, als er befürchtet hatte. Mit jaulendem Motor düste es um die Ecke. Das Wasser spritzte zur Seite und traf so hart gegen mehrere Fensterscheiben, dass das Glas klirrte.
Es handelte sich um ein schnittiges Motorboot, wie es in Amsterdam einige Leute besaßen. Steuerrad und Gashebel waren hinter der hochgezogenen Windschutzscheibe unter einem kleinen, schmalen Dach untergebracht, das vor Regen und Spritzwasser schützen sollte. Der hintere Teil des Bootes mit der Ladefläche und den Sitzplätzen war offen.
Deutlich waren drei schwarze Schatten zu erkennen. Den breiten Schultern nach zu schließen, waren es Männer. Trotz der rasanten Fahrt standen sie. Es sah aus, als würden sie sich umarmen. Oder hielten die beiden äußeren den Mann in der Mitte fest? Ja, sie hatten seine Arme gepackt und umklammerten sie eisern. Der Gefangene wehrte sich. Er versuchte, seine Gegner abzuschütteln.
Das Boot steuerte auf eine niedere Holzbrücke zu, unter der es gerade durchkommen würde. Der Dachaufbau hätte nicht viel höher sein dürfen.
Regungslos verharrte die seltsame Gestalt am Seil. Wie ein Sack hing sie da. Über den Balken und die Seilwinde wurden sonst Möbelstücke hochgezogen. Lieferungen waren nur auf dem Wasserweg möglich.
Zwei laute Schmerzensschreie erklangen. Der Gefangene musste einem Bewacher gegen das Schienbein getreten haben. Einer hatte ihn losgelassen und krümmte sich, der andere versuchte verzweifelt, den Gefangenen festzuhalten. Mit einem kräftigen Tritt beförderte das Opfer auch seinen zweiten Gegner zu Boden.
Dann ging alles blitzschnell. Das Boot erreichte die Brücke. Der Gefangene streckte die Arme hoch und griff nach der Brüstung. Schon zog er sich aus dem Motorboot nach oben. Geschickt kletterte er über das Geländer.
Die Männer im Motorboot waren so überrascht, dass sie nicht wussten, wo er hin verschwunden war. Die Geschwindigkeit wurde verringert, ein Suchscheinwerfer auf das Wasser gerichtet.
Die Gestalt am Seil hielt den Atem an. Wenn das Licht nach oben schwenkte, würden sie ihn entdecken. Und dann?
Der Geflohene hatte sich auf der Brücke zu Boden fallen lassen. Wie eine Eidechse robbte er voran. Die Brüstung gab ihm Deckung.
Das Motorboot kehrte zurück und suchte den Kanal nach Spuren ab. Die beiden Männer redeten wild durcheinander. Sie schienen zu fluchen.
Fünf endlos lange Minuten schlichen dahin. Die Gestalt am Seil spürte, wie sich ihre Muskeln zusehends verhärteten. Die Hände waren blutleer und schmerzten, die Beine waren eingeschlafen. Aber der Kletterer wagte keine Bewegung.
Nach weiteren fünf Minuten fuhr das Boot davon.
Der
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