Ein Winter mit Baudelaire
seinem Umfeld, die es wert sind, als Freunde bezeichnet zu werden. Sie beide haben vor sieben Jahren in derselben Firma gearbeitet, bis der Schwiegervater Jérôme im familieneigenen Betrieb einen höheren Posten anvertraute. Philippe hatte Jérôme,der damals bereits mit seiner jetzigen Ehefrau, Sandrines bester Freundin, liiert war, in der Zeit kennengelernt, als er selbst mit seiner späteren Frau zusammenkam. Da waren sämtliche Jugendfreundschaften schon zerbrochen, verschüttgegangen in der Kluft, die sich durch seine beiden Studienjahre und sein neues Leben aufgetan hatte. In der darauffolgenden Zeit hatte ihn die Vaterschaft stark beansprucht. Zudem hatte er mehrmals den Job gewechselt und deshalb nur einige flüchtige Bürobekanntschaften geknüpft. Diese waren umso flüchtiger geblieben, als sich Sandrine kategorisch geweigert hatte, daran teilzuhaben, während er sich verpflichtet fühlte, sämtliche Freunde seiner Frau diskussionslos zu akzeptieren.
Philippe betrachtet das Display, auf dem bei jedem Klingelton der Vorname »Jérôme« aufblinkt. Er schiebt sich das Handy wieder in die Tasche und isst weiter. Als er fertig ist, sammelt er die zerknitterten Verpackungsabfälle seiner Mahlzeit ein, leert das Tablett und kehrt ins Auto zurück. Rauchend starrt er auf die großen, kastenartigen Hallen des Gewerbegebiets, in dem Tausende von Menschen den langen Stunden ihrer Wochenenden einen Sinn verleihen, indem sie auf Pump konsumieren. Dann nimmt er sein Handy und wählt die Nummer, die noch vor vierundzwanzig Stunden die seines Zuhauses war.
Nach fünfmaligem Klingeln springt der Anrufbeantworter an:
»Guten Tag, hier ist der Anschluss von Sandrine und Claire, wir sind im Moment nicht da, bitte hinterlassen Sie uns eine Nachricht, bis bald …«
Sandrine hat nicht lange gezögert, ihrem Anrufbeantworter, auf dem noch gestern er selbst und seine Tochter zu hören waren, eine neue Ansage aufzusprechen.
»Ja, hallo, hier ist Philippe … Montagabend, ungefähr viertel nach neun … Ich … ich wollte mit meiner Prinzessin sprechen … Ich hatte versprochen, sie jeden Abend anzurufen … um ihr eine Geschichte zu erzählen … Tja … Ist wirklich niemand da? … Hallo, hallo? … Gut, dann versuche ich’s auf deinem Handy, Sandrine … Küsschen, das war Papa …«
Er legt auf und wählt die Handynummer seiner Frau. Die Mailbox geht sofort an.
»Sandrine, ich weiß nicht, ob du mit der Kleinen unterwegs bist oder ob du dich weigerst, meinen Anruf anzunehmen, aber … nun gut, ich habe zu Hause eine Nachricht hinterlassen … Sei also so nett und sag Claire, dass ich sie wie versprochen angerufen habe …«
Er legt auf, und sein Blick verliert sich für einen Moment in den Schatten der Stadtlandschaft, dann lässt er den Motor an und fährt zu seinem Hotel.
Äußerer Schein
Zehn Tage später, Donnerstag. Mit dem Handy in der Hand läuft Philippe rauchend in seinem engen Formule-1 -Zimmer auf und ab.
Die zweite Maiwoche ist schon vorbei. Die Hälfte des Monats ist definitiv verstrichen, und immer noch nichts. Dabei hat er sich abgerackert wie kein Zweiter, ist bis spät in die Nacht im Büro geblieben, aber bis auf zwei magere Ausnahmen hat keiner der Kundentermine, die er ergattern konnte, zum heilbringenden Bestellschein geführt. Bis zum Monatsende muss er noch neun Verträge an Land ziehen. Die anderen Verkäufer brauchen nur noch zwei, höchstens drei, von Stéphane Tascal ganz zu schweigen, der schon sechsundzwanzig in der Tasche und seine Zielvorgaben damit längst überschritten hat. Angesichts seines Rückstands hat er angefangen, sich nach Stellenangeboten in seinem Bereich umzuschauen. Was die Wohnungssuche betrifft, so hat er von keiner der sieben besichtigten Wohnungen, für die er seine Unterlagen eingereicht hat, jemals wieder etwas gehört. Genauso wenig wie von seiner Tochter und seiner Ex-Frau, trotz unablässiger Anrufe seinerseits, die in ihrer Häufigkeit schon fast an Belästigung grenzen.
Er drückt seine Zigarette aus und zündet sich eine neuean.Zum x-ten Mal wählt er Sandrines Nummer. Zum x-ten Mal meldet sich sofort der Anrufbeantworter. Und zum x-ten Mal legt er noch während der Ansage auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ungehalten wirft er das Telefon aufs Bett und verharrt, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Im Fernsehen läuft wie zur akustischen Untermalung eine einschläfernde Krimiserie.
Plötzlich klingelt das Handy. Er stürzt hin. Auf dem Bildschirm
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