Ein Zirkus für die Sterne
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Zweihundertundfünfzig Jahre nachdem August Rüngelings berühmte Söhne – die Ringling Brothers – 1884 ihren ersten Zirkus auf Tournee geschickt hatten, war die »Größte Show der Welt« auch die letzte Show der Welt. Da stand sie zusammengepfercht unter geflickten Segeltuchplanen am Rande Ottawas, eine armselige Angelegenheit mit drei Masten. Inzwischen waren aus Holperwegen Eisenbahnschienen geworden, die Eisenbahn war Beton- und Asphaltstraßen gewichen, und der harte Weg hatte in einem Wirrwarr von Vorschriften sein Ende gefunden.
Die alten Übel waren geblieben – Feuer, Sturm, Eis, Schlamm, Regen, Unfälle, Notlagen, Betrügereien, Zelt- wie Nervenzusammenbrüche waren jedem Showmitglied so vertraut wie der eigene Name. Aber in einem Zeitalter, da die Lösung der menschlichen Probleme als selbstverständlich galt, gab es keinen Platz mehr für John J. O’Haras Zirkus. Platz – der jedenfalls, den eine Zeltstadt brauchte – war zu kostbar. An Straßenbenutzungsgebühren bezahlte die Show siebenhundert Credits pro Kilometer, und die harten, grasbewachsenen Plätze in der Nähe von Bevölkerungszentren, soweit noch vorhanden, kosteten mehr als dreißigtausend Credits für die vierundzwanzig Stunden, in denen die Show den Gegenwert von fünf Stunden Vergnügen zustande brachte. All das und viel mehr hatte der Zirkus überstanden. Sein Weg endete auf dem Platz bei Ottawa, als er sich dem einen gegenüberfand, das ein außerplanmäßiges Unternehmen vor allem fürchtet – Gesetzen zum allgemeinen Wohl, vollzogen durch unbestechliche Beamte.
»Sie werden keinen Zentimeter nachgeben, Mr. John.« Arthur Burnside Wellington, der Rechtsverdreher der Show, hatte vor dem Schreibtisch des Direktors gestanden und den alten Kopf geschüttelt. Der hochgewachsene, zerbrechliche Mann schien zum erstenmal in seinen mehr als sechzig Jahren verblüfft. Er streckte die Hände aus und ließ sie an der Seite herabfallen. »Ich kann sie einfach nicht bewegen.«
O’Hara rieb sich die Augen und sah Wellington an. »Patch, hast du es mit einer kleinen Spende versucht?«
Wellington nickte. »Diese Burschen haben nichts nötig, Mr. John, gar nichts.«
»Was ist mit krummen Geschäften?«
Wellington schüttelte den Kopf. »Hab’ nie einen so geraden Haufen gesehen. Nicht mal die Spur eines Strafzettels. Keine Nebeneinkünfte, keine Affären, keine Vetternwirtschaft – nichts.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Muß ausgerechnet jetzt Ehrlichkeit in der Regierung …« Wellington hielt inne, rieb sich das Kinn und starrte den Direktor an, ohne ihn wahrzunehmen.
»Patch, was ist los?«
Wellington runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich gar nichts. Vielleicht ein Strohhalm, vielleicht auch nicht.« Wellington drehte sich um und verließ tief in Gedanken versunken den Bürowagen.
Stunden später, während die Abendvorstellung lief, saß O’Hara im Dunkel des Bürowagens und lauschte mit halbem Ohr auf die Zirkuskapelle, deren Klänge aus dem Hauptzelt herüberwehten. Er schloß die Augen und lehnte den Kopf an seinen Sessel zurück. Nichts klingt wie eine Zirkuskapelle. Wenn erprobte Orchester herumfiedeln und -blasen, so sind die Anstrengungen ehrenvoll, doch für das Ohr, das mit Blechpustern groß geworden ist, bleibt der Unterschied beträchtlich. Kein Musiker, der an starre Noten, Takte und Pausen gebunden ist, kann Klang und Taktschlag von Blechpustern nachmachen, die darin geübt sind, zum Trott eines tanzenden Pferdes oder eines Elefanten zu spielen, so daß das Tier der Musik zu folgen scheint und nicht umgekehrt.
O’Hara öffnete die Augen und beobachtete die bunten Lichtreflexe des Haupteingangs auf der Wand gegenüber vom Kassenfenster. Dieser Bursche in Bangor – dieser Schriftsteller – hatte gefragt, warum. Es war ihm völlig rätselhaft. Zirkusarbeit war Knochenarbeit, gefährlich und nicht besonders einträglich. Warum also ein Zirkus? Der Direktor hatte sich darum bemüht, erklärende Worte zu finden, doch schließlich mußte er sich mit der Antwort des gewöhnlichen Zirkusmenschen begnügen: »Es ist eine Krankheit.«
Der Direktor beugte sich nach vorn, setzte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und barg das Gesicht in den Händen. Die Krankheit. Es ist mehr als eine Krankheit – eine Sucht. Es ist ein verzehrendes Bedürfnis, das keiner, der hinter einer Schreibmaschine hockt, jemals verstehen könnte. Und daher kriegen die Damen und Herren der Medien immer wieder zu hören, was
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