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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Jessen
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nicht glaube. Denn ich weiß, wir werden wie blöd schuften müssen, um das dämliche Haus zu finanzieren. Ich weiß, dass ich bei Euro-Team rausfliege, wenn meine Ideen keine Art-Directors-Club-Medaillen gewinnen. Ich weiß, dass ich dann nicht so schnell wieder etwas Lohnadäquates bekomme. Ich weiß, dass man als einkommensstarke Jungfamilie ganz schnell auf die Schnauze fallen kann. Das alles weiß ich, und daher ist es nicht leicht, die Wahrheit zu verbiegen.
    Es ist nicht leicht, aber es ist auch nicht unmöglich.
    „Sieh mal“, sage ich, „in einem Jahr habe ich Nils’ Job. Das sind nochmals zwei Mille im Monat. Du wirst auch nicht ewig auf deinen vier rumhängen. Dann haben wir jede Menge Spielraum.“
    Als einkommensstarke Jungfamilie mit 400.000 Euro Schulden muss man optimistisch sein.
    „Außerdem“, sage ich, „sind wir kinderlos. Wir können beide arbeiten. Das ist gut.“
    Ich sehe Calvin an, dass er das gar nicht gut findet. Aber die Wahrheit, auch die verbogene, hat Schattenseiten. Das lässt sich nun mal nicht ändern.
    Die Arbeit in einer Werbeagentur ist nicht fancy. Die meiste Zeit verbringt man damit, aus Scheiße Gold zu machen. Das läuft so: Ein Kunde wirft ein Produkt auf den Markt, sagen wir, einen Schokoriegel. Der konkurriert mit zehn anderen Schokoriegeln, die schon ewig in den Regalen schmoren. Nun liegt es an der Werbeagentur, die Leute zu überzeugen, dass sie Schokoriegel Nr. 11 kaufen müssen. Also zerbrechen wir uns den Kopf, was der Kunde davon hat, wenn er Schokoriegel Nr. 11 kauft. Stundenlang, tagelang, wochenlang zerbrechen wir uns den Kopf.
    Was zum Teufel kriegt der Kunde, wenn er Schokoriegel Nr. 11 kauft? Wir sitzen in einem muffigen Konferenzraum, und Gregor sagt: „Karies.“
    Gregor ist Grafiker. Von Grafikern kann man keine vernünftigen Vorschläge erwarten.
    „Sehr witzig“, antworte ich.
    Das Problem ist: Alle Schokoriegel sind gleich. So wie alle Waschmittel gleich sind, alle Handys und MP3-Player, alle Damenbinden, alle Katzenfuttersorten, alle Autos. Weil das so ist, hat die Werbung den Zusatznutzen erfunden. Der Hauptnutzen eines Autos ist: Es fährt von A nach B. Jedes Auto macht das. Aber ein Auto macht das besonders sicher. Das andere besonders schnell. Das dritte ökologisch. Wir werben also: Dieses Auto fährt Sie von A nach B, und Sie schonen dabei die Umwelt. Natürlich ist das Quatsch. Natürlich schont keiner die Umwelt, wenn er Auto fährt. Trotzdem funktioniert Werbung über Zusatznutzen.
    Was aber, wenn das Produkt keinen hat?
    Das ist der Punkt: Was ist der Zusatznutzen von Schokoriegel Nr. 11?
    Seit Tagen liegt mir Nils damit in den Ohren. Ich sage, ich mach den Oilily-Etat, also steck dir deinen Schokoriegel sonst wohin. Er sagt, nee, nee, nee, bei uns läuft das anders. Bei uns arbeiten die Kreativen auf allen Etats.
    Das hat man davon, wenn man in die Provinz geht.
    Als ich nach Hause komme, bin ich schlecht gelaunt. Calvin ist nicht da. Calvin ist nie da, denn Eventmanager kennen keinen Feierabend. Vor 22 Uhr bekomme ich ihn selten zu Gesicht. Wer ebenfalls bis in die Puppen arbeitet, sind Architekten. Deshalb weiß ich, dass Frank im Büro ist. Ich rufe an. Er braucht eine Zeitlang, um sich an mich zu erinnern. Dann fällt er aus allen Wolken. Dann wird er misstrauisch.
    „Du in Stuttgart?“, sagt er. Seine Stimme klingt nicht nach „Das freut mich aber“. Sie klingt nach „Warum sollte mich das interessieren?“.
    „Wir könnten uns doch mal treffen“, sage ich. „Du und Ulrike, Calvin und ich. Wird bestimmt lustig.“
    „Weißt du“, sagt Frank, „ich habe im Moment echt viel zu tun. Steck bis über die Ohren in einem Monsterprojekt.“
    Er hat keine Lust, das ist es. Aber darauf bin ich vorbereitet.
    „Am besten zum Brunch“, sage ich. „Wie wär es mit nächstem Sonntag? In der Akademie der Schönen Künste?“
    „Ganz schlecht. Da besuchen Ulrike und ich ihre Eltern.“
    „Dann übernächsten Sonntag.“
    Das lernt man in der Werbung: Erfolg hat nur, wer penetrant ist.
    „Hm“, sagt Frank.
    „Ich reserviere einen Tisch für vier.“
    „Na gut“, sagt er. „Übernächsten Sonntag.“
    „Super, ich freu mich“, sage ich und lege auf. Ich weiß, dass Frank übernächsten Freitag absagen wird. Deshalb rufe ich ihn von heute ab täglich an.
    Penetrant sein ist die Lösung.
    Dann ist übernächster Freitag, und ich bin bester Laune. Ich habe das Schokoriegel-Problem geknackt.
    „Zusatznutzen Verführung“,

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