Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Frank.
„Wenig“, sagt er. „Zu viel zu tun.“
„Zu viel zu tun?“, wiederholt Ulrike. „Die Untertreibung des Jahres! Doch für Kochsendungen hat der Herr immer Zeit.“
„Wir kochen auch nie“, sagt Calvin. „Obwohl wir eine Riesenküche haben. Die ist noch das Beste vom Haus.“
Ich sage nichts. Aber meine Hände werden feucht.
Um ehrlich zu sein, nicht nur meine Hände.
Um ganz ehrlich zu sein, ist das der Moment, auf den ich so lange gewartet habe.
Auf den ich monatelang hingearbeitet habe.
Penetrant sein ist die Lösung.
„Wo wohnt ihr denn?“, fragt Frank.
„Im Rieselfeld“, sage ich. „Im Wohnviertel für einkommensstarke Jungfamilien.“
„Da wollte ich nie hin“, sagt Calvin. „Vor allem wollte ich nicht in dieses Haus. Ich weiß gar nicht, wie man so einen Scheiß bauen kann. Du bist doch Architekt, Frank. Sag mir, wer sich so etwas ausdenkt.“
Während Calvin erklärt, weshalb unser Haus keinen Cent wert ist, schaue ich mir Frank genau an. Respekt. Der Lausbub, der zum Mann gereift ist, nimmt es wie ein Mann. Erst als Calvin fertig ist, sagt er: „Das Haus habe ich gebaut.“
Für einen Moment kann man eine Stecknadel fallen hören. Calvin kriegt den Mund nicht zu. Ulrike schaut aus, als habe sie den Wetterbericht für morgen vergessen. Ich merke, wie mich meine Erregung fast übermannt.
Das ist gut. Fast übermannt, meine ich.
Ein einfacher Brunch kann zum Höhepunkt der Woche werden.
Wenn auch zu einem teuren.
Einem, der 400.000 Euro kostet.
Keine zwanzig Minuten später sitzen wir im Auto und fahren nach Hause. Nach dem Satz „Das Haus habe ich gebaut“ war der Brunch vorbei. Frank sagte nichts mehr. Ulrike hörte auf, über ihren Chef zu lästern. Calvin hatte es den Appetit verschlagen. Nur mir gingʼs bestens. Aber ich kann mich zusammenreißen, wenn es sein muss.
Im Auto platzt es aus Calvin heraus: „Ich fass es nicht, ich fass es nicht! Ist das peinlich. Wie konnte ich wissen, dass Frank unser Haus gebaut hat? Hast du es gewusst?“
„Woher denn“, sage ich.
„Ich habe ihn richtig beleidigt.“
„Du hast gesagt, solche Stümper müssten Berufsverbot kriegen.“
„Shit!“
„Man sollte sie in ihre Häuser einsperren und verschimmeln lassen.“
„Hör auf!“
„In jeder anderen Branche wären diese Schwachmaten längst arbeitslos.“
„Au!“
„Du bist zur richtig großen Form aufgelaufen.“
Wir erreichen unser Haus, und die Plastikplatten blinken und blitzen.
„Deutscher Architekturpreis“, sage ich. „Wir hätten Frank eigentlich gratulieren sollen.“
Ich öffne die Tür, nehme Calvin an der Hand, führe ihn die Treppe hoch, die unser Haus in zwei Hälften schneidet, und direkt ins Schlafzimmer. Es ist das zweite Mal, dass wir miteinander schlafen, seit wir hier wohnen.
Das erste Mal war nicht der Rede wert.
Heute ist es phantastisch.
Calvin ist in mir, aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich Frank.
Ich schließe die Augen. Und mache sie erst wieder auf, nachdem ich zweimal zum Höhepunkt gekommen bin.
Bibione, Italien
Ich trinke Cola light. Sanne trinkt Bier, das ist ihr nicht abzugewöhnen. Simon und Gesine trinken landestypischen Weißwein. Es ist 11 Uhr am Morgen, und wir schauen Calvin und Reinhold beim Wasserskilaufen zu. Vor mir liegt die Liste mit den Regeln. Natürlich kenne ich sie auswendig. Wir sind vor drei Tagen angekommen, und ich bin immer die Erste, die die Regeln kennt. Ich bin auch die Einzige, die die Regeln kennt. Deshalb muss ich alle Fragen beantworten. „Ab wann gibtʼs Frühstück? Bis wann kriegt man was?“
Das sind die Regeln vom Hotel Mediterraneo, Bibione, Italien: Alles ist all inclusive. Frühstück von 6:30 Uhr bis 10 Uhr, Langschläferfrühstück bis 11 Uhr. Langschläferfrühstück heißt, die Hälfte des Büfetts ist abgebaut, weil das Servicepersonal Platz fürs Mittagsbüfett braucht.
Simon sagt: „Gianna Nannini spielt in Venedig. Hat jemand Lust? Wir fahren zum Lido und nehmen ein Vaporetto.“
Mittagsbüfett gibtʼs von 12 Uhr bis 14 Uhr, Kaffee und Kuchen von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr.
„Was ist ein Vaporetto?“, fragt Sanne.
„Boccia“, sagt Gesine. „Der Mann an der Rezeption sagte, ab 16 Uhr gibtʼs Boccia.“
Das machen sie absichtlich. Wenn Boccia mit Kaffee und Kuchen kollidiert, essen die Leute weniger.
Abendessen: 18 Uhr bis 20:30 Uhr.
„Ein Vaporetto ist ein Wassertaxi“, sagt Simon.
Softdrinks, Bier und landestypische Alkoholika sind ebenfalls im
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