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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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diese Genugtuung nicht geben und schwieg. Er kauerte die ganze Zeit in Hockestellung vor uns, richtete sich jetzt aber auf und streckte sich mit einem Gähnen. Die Sonne fiel auf sein Gesicht, und er blinzelte müde, während er sich noch einmal umzusehen begann, als würde er selbst erst begreifen, dass das die Wirklichkeit war. Er hatte bis dahin noch gar nicht auf die Plane geschaut und starrte plötzlich kopfschüttelnd zu ihr hin. Dann beugte er sich noch einmal zu uns herunter, und als er sagte, der Tote könne keinem mehr schaden, was ihm mehr Sorgen bereite, sei der andere, hörte ich, wie sein Atem ging, als hätte ihn das kurze Gespräch schon erschöpft.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das nicht in Beziehung zu sich setzt«, sagte er. »Entweder er ist dadurch beschwichtigt, oder er fühlt sich aufgerufen, selbst in Aktion zu treten, um zu beweisen, dass er noch am Leben ist.«
    Damit ließ er uns allein, und wir schauten zu, dass wir uns so schnell wie möglich entfernten. Ich nahm Agata an der Hand und zog sie regelrecht hinter mir her. Inzwischen war eine Absperrung errichtet, und als wir zu ihr kamen, sah ich, dass gerade ein Fernsehteam in Stellung ging, und eine Weile lief ein Reporter mit seinem Mikrofon neben uns her und drängte und schubste, obwohl wir keine von seinen Fragen beantworteten und unsere Blicke starr geradeaus richteten, als wäre er nicht da. Ich war froh, als wir das Auto erreichten, und schlug Agata vor, noch an den Fluss hinauszufahren, aber sie wollte nichts als zurück. Sie sagte das in einem Zustand der Halb-Abwesenheit, und ich wusste sofort, es war am besten, sie nach Hause zu bringen, auch wenn sie protestierte, sie müsse das Café wieder aufsperren oder wenigstens ihren Chef verständigen, dass sie dazu nicht mehr in der Lage sei.
    Ich nahm die Autobahn, und obwohl ich mich bemühte, mit Agata zu sprechen, brachte ich auf der ganzen Fahrt kaum ein Wort aus ihr heraus. Beim Aussteigen hielt sie meine Hand länger fest und sah mich mit diesem tiefen Blick an, den ich von ihr schon kannte und der sie von einer Sekunde auf die andere um Jahre älter machte. Eine Weile blieb sie stumm, und dann erst sagte sie, sie habe gedacht, das sei das Ende, und wisse nun gar nicht, ob sie erleichtert sein solle oder erst recht anfangen müsse, sich den Kopf zu zerbrechen. Dabei lächelte sie mich an, und als sie gleich danach fragte, was ich jetzt vorhätte, rettete ich mich in Belanglosigkeiten und überlegte vor mich hin, ich würde wohl nach Hause fahren, mir vielleicht einen Film im Fernsehen anschauen, etwas lesen oder spazierengehen oder überhaupt schlafen, weil mich das alles nur mehr müde mache.
    Es musste unbefriedigend klingen, aber viel Besseres hatte ich in dem Augenblick nicht für sie. Wir verabschiedeten uns, und ich fuhr dann in den nächsten Stunden ziellos umher und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Ich hielt an der Raststätte, um etwas zu trinken, und schließlich, schon gegen Abend, landete ich in meiner Unruhe wieder im Dorf. Mir ist nicht klar, was mich noch einmal zu dem Haus zog, ich wäre wahrscheinlich ohnehin an der Absperrung gescheitert, aber als ich vor dem Hof, den der Reverend damals mit seiner Familie bewohnt hatte, eine Gruppe von Jugendlichen entdeckte, blieb ich bei ihnen stehen. Ich ließ auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, und zwei von ihnen lösten sich vom Zaun, an den sie gelehnt waren, und kamen näher. Nicht, dass ich mir etwas dazu überlegt hatte, und schon gar nicht, wie ich sie ansprechen solle, aber ich kann mir nur mit meiner Nervosität erklären, dass ich wie der größte Dummkopf, der sie provozieren wollte, meine paar Brocken Türkisch hervorkramte. Ich bereute es im selben Augenblick, als sie nicht darauf eingingen und sich gegenseitig ansahen, wie wenn sie sich fragten, ob sie es mit einem Verrückten zu tun hatten. Dann trat der Größere von ihnen noch einen Schritt vor, beugte sich so weit in die Tür, dass er fast mit seinem ganzen Oberkörper hereinragte, und zischte mich an, seinen Akzent absichtlich hervorkehrend, indem er die Enden der Wörter zu einem weichen Nuscheln verschliff.
    »Bist du von der Polizei?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Warum sprichst du türkisch mit uns?«
    »Ich bin zwei Jahre in Istanbul gewesen«, sagte ich, als wäre ich dadurch ein für alle Mal dagegen gefeit, etwas falsch zu machen. »Dort habe ich es ein wenig gelernt.«
    »Du bist zwei Jahre in Istanbul gewesen und

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