Eine betoerende Schoenheit
haben eine Kappe mit Streifen von Harrow getragen und meine Frau angegafft.“
Christians Spiegelbild im Fenster, eine Radierung aus Licht vor dem Hintergrund der dunklen Straße, zeigte einen Mann, der in Fassungslosigkeit erstarrt war, so, als ob er Medusa selbst in die Augen gesehen hatte.
„Ich kann mir nicht merken, wie meine Dienstmädchen aussehen, aber ich erinnere mich an die Gesichter aller Männer, die je nach meiner Frau gelüstet haben.“ Townsend klang seltsam teilnahmslos, als ob es ihm nichts mehr ausmachte.
Christians Wangen glühten, doch er sagte kein Wort: Ganz gleich wie geschmacklos es war, so über seine eigene Frau zu sprechen – und jene zu beschimpfen, die sie begehrten –, Townsend besaß jedes Recht dazu.
„Sie erinnern mich an jemanden“, fuhr Townsend fort. „Sind Sie mit dem verstorbenen Duke of Lexington verwandt?“
Wenn Christian seinen Namen nannte, würde Townsend ihn dann gegenüber seiner Gattin verunglimpfen? Er beobachtete, wie sich die Lippen seines Spiegelbildes bewegten. „Der verstorbene Herzog war mein Vater.“
„Aber natürlich. Dann sind Sie Lexington. Sie wäre entzückt darüber, dass jemand von Ihrem Stand sie für begehrenswert hält.“ Townsend lachte, aber es klang trocken und humorlos. „Ihr Wunsch könnte sogar in Erfüllung gehen, Euer Gnaden. Aber überlegen Sie es sich noch einmal. Sonst ergeht es Ihnen am Ende womöglich noch wie mir.“
Diesmal konnte Christian seine Verachtung nicht für sich behalten. „Sie meinen, dass ich mit Fremden über meine Frau spreche? Das glaube ich eher nicht.“
„Das hätte ich früher von mir auch nicht gedacht“, entgegnete Townsend achselzuckend. „Entschuldigen Sie, Sir, dass ich Sie mit meinem unmännlichen Gerede aufgehalten habe.“
Er verneigte sich. Christian erwiderte das mit einem kurzen Nicken.
Erst am nächsten Tag fragte er sich, was Townsend wohl mit „Ihr Wunsch könnte in Erfüllung gehen“ gemeint hatte.
Townsends Todesanzeige stand noch in der gleichen Woche in der Zeitung. Schockiert stellte Christian Nachforschungen an und fand heraus, dass Townsend am Rande des Bankrotts gestanden hatte. Zudem schuldete er Juwelieren in London und auf dem Kontinent gewaltige Summen. Hatte er derart hohe Schulden angehäuft, um seine Frau bei Laune zu halten und so zu verhindern, dass ihr Blick zu ihren zahlreichen Bewunderern schweifte, die bereit waren, sich ihre Gunst mit großzügigen Geschenken zu erkaufen?
Ein Jahr und einen Tag nach seinem Tod heiratete Mrs Townsend erneut – eine unerhört frühe Wiederheirat in Anbetracht der üblichen Trauerzeit von zwei Jahren. Ihr zweiter Ehemann, ein Mr Easterbrook, war wohlhabend und dreißig Jahre älter als sie. Binnen kürzester Zeit kamen Gerüchte über eine zügellose Affäre in Umlauf, die sie direkt unter Mr Easterbrooks Augen mit keinem Geringeren als einem seiner besten Freunde unterhielt.
Ganz offensichtlich war Christians Angebetete eine oberflächliche, gierige und selbstsüchtige Frau, die den Menschen in ihrer Umgebung schadete und sie ausnutzte.
Er zwang sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Es war nicht übermäßig schwer, sie zu meiden. Er verkehrte nicht in denselben Kreisen wie sie, nahm nicht an der Londoner Saison teil und scherte sich auch nicht darum, bei welchen Festivitäten man unbedingt gesehen werden musste. Aus diesen Gründen war es nahezu unmöglich, dass er ausgerechnet ihr begegnete, als er aus dem Waterhouse Gebäude in der Cromwell Road trat, welches die naturgeschichtlichen Sammlungen des British Museums beherbergte.
Beinahe fünf Jahre waren vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war mit der Zeit nur noch schöner geworden. Sie schien strahlender, anziehender und gefährlicher als je zuvor.
Er war Feuer und Flamme. Es spielte keine Rolle, was für eine Frau sie war, solange sie die Seine werden würde.
Er wandte sich ab und ging davon.
KAPITEL 1
***
Cambridge, Massachusetts
1896
Das Ichthyosaurierskelett im Harvard Museum für vergleichende Zoologie war unvollständig. Da der Fischsaurier jedoch einer der ersten war, die auf amerikanischem Boden, genauer im Staate Wyoming, gefunden worden war, wollte ihn die amerikanische Universität verständlicherweise unbedingt ausstellen.
Venetia Fitzhugh Townsend Easterbrook trat näher, um seine winzigen Zähne zu betrachten, die an die Klinge eines gezackten Brotmessers erinnerten und darauf hindeuteten, dass er sich von weichen
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