Eine betoerende Schoenheit
hilflos im Meer getrieben.
Jemand sprach ihn an. Er verstand kein einziges Wort.
Ihre Schönheit hatte etwas Urgewaltiges, wie eine turmhohe Gewitterwolke, eine dräuende Lawine oder ein bengalischer Tiger, der durch den dunklen Dschungel pirschte. Eine Erscheinung von unterschwelliger Bedrohlichkeit und zugleich überwältigender Vollkommenheit.
Er spürte einen stechenden, süßen Schmerz in der Brust: Sein Leben würde ohne sie nie mehr vollständig sein. Er hatte jedoch keine Angst, verspürte nur Begeisterung, Staunen und Verlangen.
„Wer ist das?“, fragte er niemand Bestimmten.
„Das ist Mrs Townsend“, antwortete niemand Bestimmtes.
„Sie ist ein bisschen zu jung, um Witwe zu sein“, sagte er.
Die Arroganz dieser Äußerung würde ihn in den kommenden Jahren noch lange erstaunen – dass er hörte, wie jemand sie Mrs Townsend nannte und er augenblicklich davon ausging, dass ihr Mann tot war. Dass er wie selbstverständlich davon ausging, dass nichts seinem Willen im Weg stehen konnte.
„Sie ist nicht verwitwet“, unterrichtete man ihn. „Sie ist tatsächlich voll und ganz verheiratet.“
Ihm war niemand aufgefallen, der sie begleitete. Sie erschien ihm wie auf einer Bühne, allein und mitten im Rampenlicht. Nun aber sah er, dass sie von Menschen umgeben war. Ihre Hand ruhte leicht auf dem Arm eines Mannes. Ihr Gesicht war diesem Mann zugewandt, und wenn er sprach, lächelte sie.
Christian hatte sich immer für etwas Besonderes gehalten. Nun war er nur ein ganz gewöhnlicher Mann, der sich nach etwas verzehrte und sehnte, ohne das Verlangen seines Herzens je stillen zu können.
„Du hast dich heute ganz schön zur Schau gestellt“, bemerkte Tony.
Venetia klammerte sich an den Halteriemen. Der geschlossene Einspänner bewegte sich langsam durch Londons verstopfte Straßen, es war eigentlich nicht nötig, sich überhaupt irgendwo festzuhalten. Doch sie schien die Hände nicht von den Lederstreifen lösen zu können.
„Ein Spieler aus Harrow konnte nicht aufhören, dich anzustarren“, fuhr Tony fort. „Wenn ihm jemand Besteck gereicht hätte, hätte er dich ohne Zögern verschlungen.“
Sie gab keine Antwort. Wenn Tony sich in einer seiner Launen befand, war es sinnlos, irgendetwas zu sagen. Wolken zogen sich über ihnen zusammen. Unter ihren sich ausbreitenden Schatten wurden die Blätter grau – nichts in London entkam der Herrschaft des Rußes.
„Wäre ich nicht so diskret, würde ich ihm erzählen, dass du keine Kinder bekommen kannst. Du bist eine kunstvolle Täuschung Gottes, Venetia. Äußerlich so schön, aber nutzlos, wo es darauf ankommt.“
Seine Worte tropften wie Säure in ihr Herz, brannten und fraßen sich hinein. Auf dem Bürgersteig öffneten die Fußgänger ihre Regenschirme, die sie immer griffbereit hielten. Zwei dicke Tropfen trafen das Fenster der Kutsche. Sie rannen an der Fensterscheibe entlang und hinterließen lange, verwischte Schlieren.
„Es steht nicht fest, dass ich keine Kinder bekommen kann“, wandte sie ein. Sie hätte schweigen sollen. Ihr war bewusst, dass er sie nur provozierte. Doch irgendwie konnte sie bei diesem Thema nie schweigen.
„Wie vieler Ärzte bedarf es denn noch, um dich davon zu überzeugen? Nebenbei bemerkt, meine Freunde heiraten und haben innerhalb eines Jahres bereits einen Erben. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet, aber du scheinst überhaupt nicht schwanger werden zu wollen.“
Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Lippen. Die Schuld an ihrer Kinderlosigkeit konnte genauso gut bei ihm liegen, doch er weigerte sich, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
„Es wird dich jedoch freuen zu hören, dass dein Aussehen nicht vollständig nutzlos ist. Howard hat zugestimmt, sich an meiner Eisenbahngesellschaft zu beteiligen – und ich möchte meinen, er hat das getan, um mehr Gelegenheiten zu erhalten, dich zu verführen“, sagte Tony.
Endlich sah sie ihn an. Die Härte seiner Stimme spiegelte sich in seinem Gesicht wider, seine einst gewinnenden Züge wirkten nun versteinert und harsch. Solange er ihr den Hof gemacht hatte, hatte sie ihn unglaublich anziehend gefunden – lustig, klug und von Hunger nach Leben erfüllt. Hatte er sich wirklich so verändert, oder war sie blind vor Liebe gewesen?
Wenn er Howard doch dafür verachtete, dass er sie begehrte, warum ließ er ihn dann immer mehr zu einem Teil ihres Leben werden? Sie waren nicht auf die Eisenbahngesellschaft angewiesen. Ebenso wenig wie auf einen
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