Eine blaßblaue Frauenhandschrift
Hellsicht kann ich dir nicht erklären. Das heißt, ich müßte jetzt endlich reden. Ich müßte anfangen: Du hast recht, mein Kind. So merkwürdig es ist, du hast eine echte Eingebung gehabt … Aber kann ich jetzt so reden? Könnte ein weit charaktervollerer Mensch als ich jetzt so reden?
»Es ist wirklich nicht sehr hübsch von dir«, sagte er laut, »was sich da deine alte Eifersucht gegen mich zusammengeträumt hat. Aber als Pädagoge bin ich schließlich von Amts wegen ein bißchen Seelenkenner. Ich spür schon längst deinen gereizten Zustand. Wir leben bald zwanzig Jahre nebeneinander und haben nur ein einziges Mal eine längere Trennung erlitten, du und ich. Da kommen die unvermeidlichen Krisen, heut für den einen, morgen für den andern. Es war riesig moralisch von dir, daß du dein ehrenrühriges Unterbewußtsein gerade mir anvertraut hast. Ich beneide dich um deine Beichte. Denk dir aber, ich habe beinah schon wieder vergessen, daß ich ein Giftmörder bin und ein Testamentfälscher …«
Die salbadernden Lügen gehen weiter. Nichts hab ich vergessen. Dienstmädchenverführer am Sonntag, das sitzt. – Amelie hob mit einem verklärt lauschenden Ausdruck ihr Gesicht:
»Ist es nicht komisch, daß man so unbeschreiblich
glücklich ist, wenn man gebeichtet hat und Absolution erhält? Nun ist auf einmal alles weg …« Leonidas sah angestrengt zur Seite, während seine Hand ganz leicht ihr Haar streichelte:
»Ja, es ist wohl eine gewaltige Erleichterung, aus der Tiefe gebeichtet zu haben. Und dabei hast du nicht die leiseste Sünde begangen …«
Amelie stutzte. Sie blickte ihn plötzlich kühl und forschend an:
»Warum bist du so schrecklich gut, so weise, so gleichgültig, so fern, der reinste tibetanische Mönch? Wär’s nicht nobler, du würdest dich durch eine eigene schlimme Beichte revanchieren? …« Nobler wär es bestimmt, dachte er, und die Stille wurde sehr tief. Aber es kam nur ein unentschlossenes Räuspern aus seinem Mund. Amelie war aufgestanden. Sie puderte sich sorgfältig und schminkte die Lippen. Es war die weibliche Atempause, die einen erregenden Auftritt des Lebens beendet. Noch einmal streifte ihr Blick Veras Brief, den harmlosen Bittbrief, der auf dem Tisch lag: »Sei nicht bös, León«, zögerte sie, »aber da ist noch eine Sache, die mich stört … Warum trägst du von deiner ganzen heutigen Post gerade den Brief dieser wildfremden Person in deinem Portefeuille?« »Die Dame ist mir nicht fremd«, erwiderte er ernst und knapp, »sie ist mir aus alter Zeit bekannt. Ich war in den traurigsten Tagen meines Lebens in ihrem Vaterhaus als Nachhilfslehrer angestellt …« Er nahm das Blatt mit einer harten, ja bösen Bewegung und legte es zurück in seine Brieftasche. »Dann solltest du etwas für ihren begabten jungen Mann tun«, sagte Amelie, und eine versonnene Wärme stand in ihren April-Augen.
Sechstes Kapitel
Vera erscheint und
verschwindet
Sofort nach Tisch verließ Leonidas sein Haus und fuhr ins Ministerium. Nun saß er da, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte durchs hohe Fenster über die Bäume des Volksgartens hinweg, die, von perlmutterfarbenem Regen-Dunst eingeschleiert, in den wattigen Himmel ragten. Sein Herz war voll Verwunderung über Amelie und voll Bewunderung für sie. Liebende Frauen besaßen einen sechsten Sinn. Wie das schweifende Wild gegen seine Feinde, so waren auch sie mit einer sicheren Witterung ausgerüstet. Hellseherinnen waren sie der männlichen Schuld. Amelie hatte alles erraten, wenn auch, ihrer Art gemäß, übertrieben, verzerrt und falsch gedeutet. Man konnte fast argwöhnen; eine unerklärliche Verschwörung habe zwischen den beiden Frauen stattgefunden, der einen, die sich in der blaßblauen Handschrift verkörperte, und der andern, die vom füchtigen Anblick dieser Schrift ins Herz getrofen war. In den wenigen Zeilen der Adresse hatte Vera der andern die Wahrheit zugefüstert, die von Amelie als eine jähe Eingebung aus dem Nichts empfunden werden mußte. Welch ein Widerspruch, daß jene Hellsichtigkeit dann vor dem trockenen Wortlaut des Briefes zuschanden wurde. Ihm aber hatte sie ahnungsvoll ahnungslos die Maske vom Gesicht gerissen. ›Dienstmädchenverführer am Sonntag!‹ Hatte er sich nicht selbst heute einen Heiratsschwindler genannt? Und war er’s nicht tatsächlich in der kriminellen Bedeutung des Wortes? Von seinem Gesicht konnte Amelie es ablesen. Und er hatte doch knapp vorher dieses Gesicht im Spiegel
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