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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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betrachtet und nichts Gemeines darin entdeckt, sondern eine wohlgeformte Vornehmheit, die in ihm das sonderbare Mitleid mit sich selbst erweckte. Und wie war es dann gekommen, daß sein Entschluß sich ohne sein Zutun ins Gegenteil verkehrte, und nicht er beichtete, sondern sie? Ein großer, ein unverdienter Liebesbeweis, diese Beichte! Diesen radikalen, ja schamlosen Mut zur Wahrheit wie Amelie hatte er nie besessen. Das kam vermutlich von der minderen Herkunft und der einstigen Armut. Seine Jugend war erfüllt gewesen von Furcht, Auftrieb und einer zitternden Überschätzung der höheren Klasse. Er hatte sich alles krampaft anerziehen müssen, die Gelassenheit beim Eintritt in einen Salon, das souveräne Plaudern (man macht Konversation), das freie Benehmen bei Tisch, das richtige Maß im ›Die-EhreGeben‹ und ›Die-Ehre-Nehmen‹, all diese feinen und selbstverständlichen Tugenden, mit denen die Angehörigen der Herrenkaste geboren werden. Der Fünfzigjährige kam noch aus einer Welt der gespannten Standesunterschiede. Die Kraft, welche die heutige Jugend im Sport verausgabt, hatte er für eine besondere Athletik aufwenden müssen, für die Überwindung seiner Schüchternheit und für den Ausgleich seines beständigen Mangelgefühls. Oh, unvergeßliche Stunde, da er zum erstenmal im Frack des Selbstmörders vor dem Spiegel sich als Sieger gegenüberstand! Wenn er auch jene feinen und selbstverständlichen Künste vollkommen erlernt hatte und sie seit Jahrzehnten schon unbewußt übte, so war er doch nur, was die Römer einen ›Freigelassenen‹ nannten. Ein Freigelassener besitzt nicht den natürlichen Mut zur Wahrheit wie eine geborene Paradini, nicht jene verwegene Erhabenheit über alle Scham. Amelie hatte überdies den Freigelassenen um einen Abgrund tiefer erkannt als er sich selbst. Ja, es war richtig, er fürchtete, wenn er sich zu seinem und Veras Sohn bekennen sollte, ihren Zorn, ihre Rache. Er fürchtete, sie würde sogleich den Scheidungsprozeß gegen ihn einleiten. Er fürchtete nichts mehr als den Verlust des Reichtums, den er so nonchalant genoß. Er, der edle Mann, der sich ›nichts aus dem Gelde machte‹, der hohe Beamte, der Volkserzieher, er wußte jetzt, daß er das enge Leben seiner Kollegen nicht würde ertragen können, diesen täglichen Kampf gegen die besseren Bedürfnisse und Begehrlichkeiten. Er war allzu verderbt durch das Geld und durch die angenehme Gewohnheit, sich nicht die leiseste Regung eines Wunsches abschlagen zu müssen. Wie verstand er es nun, daß so viele unter seinen Amtsgenossen der Versuchung erlagen und Schmiergelder nahmen, um ihren süchtigen Frauen dann und wann eine Freude bereiten zu können. Sein Kopf sank auf die Schreibmappe. Er empfand den brennenden Wunsch, ein Mönch zu sein und einem strengen Orden anzugehören …
    Leonidas ermannte sich. »Man kann’s nicht umgehen«, seufzte er laut und leer. Dann nahm er ein Blatt und begann ein Promemona für Minister Vinzenz Spittelberger zu entwerfen, in welchem er die Betrauung des außerordentlichen Professors der Medizin Alexander Bloch mit der vakanten Lehrkanzel und Klinik als eine unausweichliche Notwendigkeit für den Staat zu begründen suchte. Warum er den Eigensinn weitertrieb und eine entscheidende Kraftprobe heraueschwören wollte, das wußte er selbst nicht. Kaum aber hatte er zehn Zeilen zu Papier gebracht, legte er die Feder hin und klingelte seinem Sekretär:
    »Haben Sie die Güte, lieber Freund, und rufen Sie das Parkhotel in Hietzing an und lassen Sie Frau oder Fräulein Doktor Vera Wormser melden, ich werde sie gegen vier Uhr persönlich aufsuchen …« Leonidas hatte wie immer in nervösen Augenblikken mit verwischter und facher Stimme gesprochen. Der Sekretär legte ein leeres Zettelchen vor ihn hin:
    »Darf ich den Herrn Sektionschef bitten, mir den Namen der Dame aufzuschreiben«, sagte er. Leonidas glotzte ihn eine halbe Minute lang wortlos an, dann steckte er das begonnene Memorandum in die Mappe, schob abschiednehmend die Gegenstände auf seinem Schreibtisch zurecht und stand auf: »Nein, danke! Es ist nicht nötig. Ich gehe jetzt.« Der Sekretär hielt es für seine Pficht, daran zu erinnern, daß der Herr Minister gegen fünf Uhr im Hause erwartet werde. Auf Leonidas, der gerade Hut und Mantel vom Haken nahm, schien diese Meldung keinen Eindruck zu machen:
    »Wenn der Minister nach mir fragen läßt, so sagen Sie nichts, sagen Sie einfach, ich bin fortgegangen …«
    Damit

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