Eine dunkle & grimmige Geschichte
Schwalben zu finden. Sie wanderten die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag und die nächste Nacht.
»Wir haben immer noch keine Ahnung, wie wir sie jemals finden sollen«, sagte Hänsel und seufzte.
Gretel schüttelte den Kopf. Aber als die Sonne am nächsten Morgen wieder aufging und ihre Augen blendete, sagte Gretel aufgeregt: »Ich weiß es! Die Sonne! Sie sieht uns, wo immer wir auch hingehen. Sie weiß bestimmt, wo die sieben Schwalben sind! Lass sie uns fragen!«
Hänsel dachte, seine Schwester sei verrückt geworden. Aber weil er keine bessere Idee hatte, stimmte er zu. So kletterten Hänsel und Gretel auf den höchsten Baum, den sie finden konnten, bis sie ganz nah an der Sonne waren. Sie versuchten, mit ihr zu sprechen, aber sie war zu heiß und blendete sie. Sie mussten ihre Gesichter vor ihr verbergen.
Hänsel zupfte seine Schwester am Ärmel: »Ich glaube, sie verschlingt Kinder«, flüstere er.
Gretel dachte, dass er wahrscheinlich recht hatte. Sie kletterten den Baum wieder hinab und begannen weiterzulaufen.
Nachts, als der Mond über den Bäumen aufging, sagte Gretel: »Der Mond sieht uns, genau wie die Sonne. Und er ist nicht so heiß und blendet nicht so. Lass ihn uns fragen!«
Und so kletterten sie auf den höchsten Baum und kamen ganz nah an den Mond heran. Er war gar nicht heiß und grell. Stattdessen war er kalt und gruselig.
»Ich rieche, rieche Menschenfleisch!«, sagte er.
Hänsel und Gretel kletterten so schnell sie konnten von dem Baum.
Ja, der Mond hat das wirklich gesagt. Nein, ich glaube auch nicht, dass der Mond Menschen verspeist. Aber genau so steht es im Original des Grimm’schen Märchens. Ich habe nachgesehen. Es stimmt.
Ängstlich und entmutigt liefen Hänsel und Gretel weiter, bis sie zu einem wunderschönen See kamen, der im Sternenschein schimmerte.
»Wir laufen schon seit Ewigkeiten«, sagte Hänsel. »Wir werden sie nie finden! Können wir nicht einfach aufgeben?«
Aber Gretel war ganz elend zumute. »Es ist meine Schuld, dass die Söhne unserer Mutter verschwunden sind!«, jammerte sie.
Sie begann zu weinen und einige ihrer Tränen fielen in den schimmernden See. Als sie die Wasseroberfläche berührten, bewegte sich die Spiegelung der Sterne. Sie erwachten aus ihrem Schlaf.
»Wessen Tränen wecken uns?«, fragten die Sterne. Zuerst hatten Hänsel und Gretel Angst. Sie fragten sich, ob Sterne auch Kinder essen. Aber die leuchtenden Sterne schienen viel netter zu sein als die mörderisch heiße Sonne und der gruselig kalte Mond. Also erzählte Gretel den Sternen all ihre Sorgen.
»Wir haben die sieben Schwalben durch die Luft fliegen sehen«, sagten die Sterne. »Sie leben im Kristallberg. Ihr könnt sie finden, aber dafür braucht ihr viel Mut und müsst große Opfer bringen. Um den Berg zu erreichen, müsst ihr viele Monate lang reisen. Der Weg wird beschwerlich sein. Wenn ihr euch entschließt zu gehen, dann nehmt diesen Hühnerknochen mit. Er wird die Tür zum Kristallberg öffnen und die sieben Schwalben freilassen.« Und die beiden Geschwister sahen einen Hühnerknochen am Ufer unter der Wasseroberfläche.
Hänsel wollte nicht zu dem Berg gehen. »Monatelang wandern?«, jammerte er.
Aber Gretel sagte: »Bitte, Hänsel!«, und sie packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Hänsel versuchte, sich loszumachen, aber als er merkte, dass er seine Schwester nicht davon abbringen konnte (und außerdem langsam das Gefühl in seinem Arm verlor), stimmte er widerwillig zu.
Gretel steckte den Hühnerknochen in ihre Tasche und die Kinder reisten einen Monat und einen Tag lang und dann noch einen Monat und noch einen Monat. Sie kamendurch dunkle Wälder und sonnige Felder, heiße Wüsten und schlammige Sümpfe. Sie wuchsen während ihrer Reise und wurden kräftig und sehnig durch die vielen Beschwernisse. Gretel trug schwer an ihren Schuldgefühlen, aber solange sie immer weiterliefen, konnte sie sie ertragen. Am Ende kamen sie schließlich zu einem riesigen Gebirge und kletterten immer weiter – durch eisigen Schnee und kalten Wind. Die Gipfel der Berge ragten links und rechts vor ihnen in die Höhe wie die spitzen Zähne eines wilden Tieres. Der Himmel über ihnen war bleich und klar und es war unendlich kalt. Ihre Wangen röteten sich und bekamen Risse, ihre Lippen wurden blau und platzten auf. Hänsel wollte umdrehen, aber Gretel weigerte sich.
Nach tagelangem Klettern erreichten sie endlich den Kristallberg. Er war unglaublich – das Schönste, was sie je
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