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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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wie ein junger Hund, den man von der Leine gelassen hatte. Gretel lachte und sang undsammelte Vergissmeinnicht und Gänseblümchen und andere Wildblumen.
    »Wir könnten hier leben!«, rief sie ihrem Bruder zu.
    Hänsel schrie vor Glück und lief einer tief fliegenden Amsel hinterher.
    Bald kamen die beiden zu einer Lichtung, auf der ein riesiger Baum stand. Er war so hoch, dass sie von unten nicht einmal erkennen konnten, wo seine tiefsten Äste begannen. Aber als sie lange genug in den Himmel starrten, konnten sie ganz weit oben eine grüne Krone erahnen.
    Gretel schrak zurück, als sie in der Rinde des Baumes etwas entdeckte, das aussah wie das Gesicht einer Frau. Es bestand ganz und gar aus Holz. Braunes Haar umrahmte ihre feinen Wangenknochen und ihre großen Augen. Gebannt lief Gretel darauf zu.
    »Was für ein fantastischer Baum«, sagte sie.
    »Danke«, antwortete der Baum.
    Man hätte jetzt erwarten können, dass Gretel erschrak oder Hänsel nach hinten kippte und über einen Baumstamm fiel, aber nichts dergleichen passierte. Die Stimme des Baumes war so sanft, dass die Kinder gar nicht verwundert waren.
    »Willkommen in meinem Wald«, fuhr der Baum fort. »Er nennt sich ›Lebenswald‹«.
    Der Baum blickte die Kinder freundlich an. »Pflanzt etwas«, fuhr er fort. »Und seht zu, wie es vor euren Augen sprießt. Beobachtet die wilden Tiere beim Springen, Hüpfen und Wachsen. Auch ihr werdet hier wachsen und glücklich sein.« Und die hölzernen Augen des Baumeswanderten von Hänsel zu Gretel. Dann fragte er: »Habt ihr vor zu bleiben?«
    Hänsel sah Gretel fragend an. Sie nickte und sagte: »Wenn du nichts dagegen hast.«
    »Ihr dürft gerne bleiben.« Der Baum lächelte und fügte dann hinzu: »Aber ich habe eine Bitte. Nehmt euch nicht mehr, als ihr braucht. Das Leben hier existiert in einer empfindlichen Balance. Bringt sie nicht aus dem Gleichgewicht.«
    Dann erzählte der Baum ihnen, dass in der Nähe ein wunderschöner Ort lag, an dem sie ein Haus bauen könnten. Die Kinder bedankten sich höflich, denn es ist immer gut, zu sprechenden Bäumen höflich zu sein. Dann sagten sie auf Wiedersehen und gingen zu dem Ort, den der Baum ihnen genannt hatte.
    Bald kamen sie zu einer kleinen Lichtung. Einige große Felsen lagen dort, halb von Erde bedeckt, ein Bach plätscherte munter über helle Kiesel, und die Sonne schien durch die grünen Blätter. Hänsel und Gretel waren sicher, dass der Baum diesen Ort gemeint hatte. Sie sammelten herumliegende Äste und Farnwedel und bauten daraus eine kleine Hütte, zur Hälfte hell, zur Hälfte schattig, die sich an die großen Felsen schmiegte. Dann sammelten sie noch mehr Farnblätter und Moos und bauten sich daraus zwei Betten. Am Ende sammelte Gretel Samen, um einen Garten anzupflanzen, und Hänsel suchte nach Nüssen und Beeren fürs Abendessen. In dieser Nacht ließen sie es sich gut gehen.
    Gretel sagte, dass sie noch nie so glücklich gewesen war,und Hänsel stimmte ihr zu. Sie beschlossen, dass sie nichts anderes zum Leben bräuchten – ganz sicherlich keine Eltern – und dass sie so bis ans Ende ihres Lebens glücklich sein würden.
    Na klar. (Oh, habe ich das gerade laut gesagt?)
    Am nächsten Tag suchte Hänsel Essen fürs Abendbrot und Gretel kümmerte sich um den Garten. Hänsel lief zwischen den riesigen Bäumen hindurch und hörte den Vögeln beim Singen zu. Er dachte sich: Was für ein Leben! Was für ein Glück! Ich will ganz und gar Teil dieser Welt sein! Genau da lief ihm ein braunes Kaninchen über den Weg. Hänsels Knie zuckten. Und bevor er sich dessen bewusst wurde, rannte er dem Kaninchen durchs Unterholz hinterher.
    Als die Sonne unterging, wanderte er zurück zu der Lichtung, erschöpft, aber glücklich wie die zwitschernden Vögel. Das Kaninchen trug er in seiner Hand. Es war tot. Er legte es vor Gretel auf den Boden.
    »Jetzt müssen wir ein Feuer machen, damit wir es essen können«, sagte er.
    Aber Gretel war aufgebracht. »Warum hast du das gemacht?«, fragte sie. »Wir brauchen das nicht!«
    Plötzlich tat es Hänsel leid, das kleine Tier getötet zu haben, nur weil die Jagd so schön gewesen war. Sie machten ein Feuer und kochten und aßen das Kaninchen, damit es nicht verrotten würde. Aber Hänsel musste Gretel hoch und heilig versprechen, nicht noch mehr Tiere zu töten.
    »Alles was wir brauchen, haben wir hier«, sagte Gretel. »Erinnere dich an die Worte des Baumes.«
    Hänsel hatte ein schlechtes Gewissen und versprach

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