Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
Vom Netzwerk:
gesehen hatten. Seine Kristallfelsen ragten aus einem Meer aus Eis und Schnee. Falken flatterten um seinen Gipfel herum und schrien in den Himmel.
    »Es ist wunderschön«, sagte Hänsel und Gretel nickte.
    »Endlich sind wir angekommen«, fügte er hinzu. »Ich hätte nicht mehr weiter gehen können.«
    Vor ihnen befand sich eine riesige Tür aus Eis mit einem Schlüsselloch so groß wie ein Finger oder ein Hühnerknochen. Gretel fasste in ihre Tasche.
    Aber sie konnte nichts finden. Sie fasste tiefer und immer tiefer in ihre Tasche, bis sie den kalten Wind an ihren Fingern spürte. Sie hatte ein Loch in der Tasche.
    Der Knochen war weg.
    Sie suchten überall nach ihm.
    »Wann hattest du ihn zuletzt?«, fragte Hänsel. »Letzte Nacht? Oder in der Nacht zuvor?«
    Aber Gretel konnte sich nicht erinnern und bekam Angst. Schon bald brach sie zusammen und weinte, bis ihr kleiner Körper erschöpft war. »All die Monate umsonst!«, schluchzte sie. »Was du wegen mir durchmachen musstest! Und ich habe unsere neue Mutter enttäuscht!«
    Hänsel hüllte Gretel in seinen Mantel ein, und als die Nacht hereinbrach, legte er sich neben sie zum Schafen.
    Aber Gretel konnte nicht schlafen. Erst nach vielen Stunden hörten ihre Tränen auf zu fließen. Sie konnte nur an ihre Niederlage denken, und ihre Schuldgefühle schmerzten wie der eiskalte Wind. Und dann gingen die Sterne auf und erinnerten sie an ihr Versagen, und sie fühlte sich so schuldig, so dumm, so unwürdig, dass sie die Sterne nicht einmal ansehen konnte.
    Bei Sonnenaufgang blickte sie auf den langen Weg, den sie gekommen waren. Jetzt mussten sie die gesamte Strecke wieder zurückgehen, ohne irgendetwas erreicht zu haben. Monate des Leidens. Und die ganze Zeit pochte dieses bedrückende Schuldgefühl in ihr.
    Plötzlich rannte Gretel zur Tür des Kristallberges, klopfte mit aller Kraft dagegen und bettelte, hereingelassen zu werden. Sie klopfte so fest, dass sie sich an einem Eissplitter schnitt. Sie weckte ihren schlafenden Bruder, der ihre Wunde versorgen wollte. Aber Gretel weigerte sich. »Ich mache es lieber noch schlimmer«, sagte sie.
    Sie ergriff ein abgeplatztes Eisstück, das so scharf war wie ein Messer, und schnitt sich damit den kleinen Finger ab.Hänsel starrte sie entsetzt an. Gretel war totenbleich, und ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Jetzt kann ich endlich alles wiedergutmachen.«
    Dort, wo der Finger einmal gewesen war, floss nun Blut. Doch sie trat entschlossen und unerbittlich zur Tür des Kristallberges. Sie hob den Finger auf, steckte ihn in das Schlüsselloch und drehte ihn herum.
    Die Tür öffnete sich.
    Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte diesen Teil der Geschichte auslassen können. Ich wünschte das wirklich. Gretel, die ihren eigenen Finger abschneidet und ihn in ein Schlüsselloch steckt?
    Falls irgendein kleiner Zweifel bestünde, dass dieser Teil der Geschichte wahr ist, hätte ich ihn weggelassen. Vielleicht hätte Gretel einen anderen Hühnerknochen finden können. Vielleicht hätte sie auch ein magisches Wort sprechen können, und die Tür hätte sich von allein geöffnet.
    Aber es gibt keinen Zweifel: Sie hat sich wirklich ihren Finger abgeschnitten. Und wenn ich das ausgelassen hätte, dann würdet ihr euch am Ende des Buches wahrscheinlich wundern, warum Gretel nur neun Finger hat. Und dann gibt es da wahrscheinlich noch eine andere Frage, die ihr euch stellt.
    Warum hat sich die Tür überhaupt geöffnet?
    Ich habe keine Ahnung. Ein Finger ist einem Hühnerknochen ziemlich ähnlich, denke ich. Aber warum überhaupt ein Hühnerknochen?
    Ich weiß nicht, warum sich die Tür zum Kristallberg mithilfe eines Hühnerknochens oder eines Fingers öffnen lässt. (Aber wo der Kristallberg liegt, das weiß ich ganz genau. Falls du es auch wissen willst, dann kann ich es dir gerne sagen. Schreib mir und ich erzähl es dir.)
    Also muss ich euch wohl etwas über das Abschneiden von Fingern erzählen, vor allem falls noch ein paar kleine Kinder weitergelesen oder zugehört haben – was sehr unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, was für grauenhafte Dinge schon passiert sind. Seinen eigenen Finger abzuschneiden ist mit das Dümmste, was man tun kann. Macht das bloß nicht! Ihr werdet mit dem abgeschnittenen Finger rein gar nichts öffnen können. Nur Gretel konnte das.
    Warum?
    Das habe ich schon gesagt. Ich habe keine Ahnung.
    Aber ich glaube, es könnte etwas mit einem Opfer zu tun haben.
    Als die Tür aufging, stieß ein

Weitere Kostenlose Bücher