Eine dunkle & grimmige Geschichte
es.
Aber am nächsten Tag, als er durch den Wald lief, um nach Nüssen und Beeren zu suchen, sah er ein kleines Rehkitz, das an einem Farn knabberte. Seine Beine begannen zu zucken und sein Herz fing an zu rasen. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er seiner Schwester gegeben hatte. Er sagte zu sich selbst, dass er das Reh nicht jagen solle. Aber es lag irgendetwas in der Luft, in dem Grün ringsum, in dem modrigen Geruch der Bäume, das in ihm einen Instinkt weckte. Er konnte nichts dagegen unternehmen. Wie ein Blitz war er hinter der verängstigten Kreatur her.
Als die Sonne unterging, kam er zu der Lichtung zurück, erschöpft und glücklich wie die kleinen Tiere, die im Unterholz herumsprangen. Über seine Schulter hatte er das tote Rehkitz geworfen. Er legte es vor seiner Schwester auf den Boden.
»Was hast du getan?!«, rief sie.
Er versuchte sie zu beruhigen. »Jetzt haben wir genug Fleisch für einen ganzen Monat!«, sagte er. »Und ich muss für eine lange, lange Zeit kein Tier mehr töten!«
Sie sah ihn verzweifelt an und begann bitterlich zu weinen. »Warum hast du das getan?«, murmelte sie. »Wir haben hier alles, was wir brauchen. Erinnere dich an die Worte des Baumes.«
Hänsel erinnerte sich ein weiteres Mal und er empfand tiefe Reue.
In der Nacht wälzte er sich hin und her. Er war auf sichselbst wütend. Hatte seine Schwester ihn nicht gewarnt? Hatte der Baum ihn nicht gewarnt? Nehmt nicht mehr, als ihr braucht . Er und Gretel hatten am Abend so viel von dem Rehkitz gegessen wie sie konnten, und es sah immer noch so aus, als hätten sie es noch nicht einmal berührt. Jetzt lag der Kadaver draußen im Gras und zog Fliegen an. Sein Gestank verpestete die wunderschöne Lichtung. Als Hänsel daran dachte, beschloss er, sich ab jetzt nicht mehr von seinen Instinkten leiten zu lassen.
Am kommenden Tag, bevor er in den Wald ging, um Früchte zu sammeln, musste er Gretel bei seinem Leben schwören, dass er kein weiteres Tier töten würde. Er umarmte seine Schwester, glücklich, dass sie ihm noch einmal vergeben hatte, und versprach, dass er nie wieder ein Lebewesen töten würde, solange sie in diesem Wald lebten. Gretel küsste ihn auf die Stirn, als sei er viel jünger als sie, und ließ ihn in den Wald ziehen, um Nüsse und Früchte zu holen.
Er wärmte sich den ganzen Tag in dem wunderschönen grünen Licht der Blätter und sammelte Beeren in seinem zerlumpten Hemd, das er sich um die Hüfte gebunden hatte wie eine Schürze. Er fühlte den Frieden und die Ruhe des Waldes, und er fragte sich, warum er das nicht schon früher so empfunden hatte und warum er in den letzten beiden Tagen von dieser unkontrollierbaren Lust getrieben worden war.
Und dann sah er eine weiße Taube auf einem nahen Ast sitzen. Etwas kribbelte in seinen Armen und Beinen. »Tu es nicht«, sagte er zu sich selbst. »Es ist falsch.« Er begannzu zittern. »Geh nach Hause. Dreh dich um und geh nach Hause.« Aber gegen seinen eigenen Willen pirschte er sich an die Taube an. Die Beeren fielen aus seiner Schürze zu Boden.
Als die Sonne an diesem Abend unterging, lief er zur Lichtung zurück, erschöpft, aber glücklich wie ein satter Wolf. Seine Arme und sein Gesicht waren voller Blut. In seinen Händen lag der tote, zerschlagene und ausgeweidete Körper des Täubchens. Gretel schrie, als sie ihn sah.
»Was hast du getan!«, rief sie. »Hänsel, was stimmt mit dir nicht?«
Hänsel blieb stehen.
Dann sah sie den toten Vogel an. Sie sah, dass die Arme ihres Bruders über und über mit Blut bespritzt waren und dass auf seinem Hemd Flecken von Blut und Beerensaft waren. Sie fragte sich, was mit den Beeren geschehen war. Gretel begann zu weinen. Hänsel, verwirrt und aufgeregt, legte die Taube zu ihren Füßen. Gretel schreckte zurück und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Er sah sie an und fühlte sich schrecklich. Aber nicht so schrecklich wie in der Nacht zuvor. Er drehte sich um und lief in den Wald zurück.
Danach begegnete Gretel Hänsel nur noch von Zeit zu Zeit. Manchmal, wenn sie im Wald Beeren suchte, sah sie ihn hinter einem Tier herlaufen. Am Anfang blieb er noch stehen, um mit Gretel zu sprechen, wenigstens einen kurzen Moment. Aber nach einer Weile bemerkte sie, dass esihm immer schwerer fiel, Worte zu finden. Er war ständig abgelenkt, weil er nach Wildtieren Ausschau hielt oder mit ruckartigen Bewegungen dem Flug eines Vogels folgte. Bald schon sprach er überhaupt nicht mehr mit ihr.
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